Nachtpfade
Zu
akademisch? Du warst ganz schön unfreundlich und zynisch.«
»Du hättest ja auch was fragen können in deiner Güte
und Wärme«, ranzte er sie an.
Evi klang nämlich ziemlich oberlehrerhaft, fand
Gerhard. Sie hatte in dem Punkt andererseits natürlich recht, der ganze Tag
heute war aus dem Ruder gelaufen. Und er hatte Hunger, bohrenden Hunger.
Nachdem Evi seine Attacke einfach ignoriert hatte, fragte er etwas sanfter: »Und was meinst du nun zu dieser Aussage? Wer war Jacky?«
»Ein Mädchen mit einer beschissenen Kindheit.
Herumgestoßen. Der Vater läuft weg. Die Mutter trinkt zu viel. Sie gibt sich
die Schuld dafür. Kinder tun so was. Leider. Ihre schwache Mutter lebt mit
einem neuen Freund zusammen, der mit Jacky nicht auskommt. Ihre Mutter entfernt
sich noch weiter, und Jacky gibt sich wieder die Schuld dafür. Sie versucht Fuß
in einem Job zu fassen, das misslingt ihr. Ein Teufelskreis. Das Mädchen hätte
professionelle Hilfe gebraucht.«
»Ach Evi, ich weiß nicht. Da bräuchten fünfzig Prozent
der Menschheit Hilfe. Wieso müsst ihr Weiber immer alles gleich
psychologisieren? Diese Jacky hatte sicher Pech als Kind, aber sie war unreif,
hat einfach nicht kapiert, dass Arbeit eben auch Verantwortung bedeutet. Das
ist doch kein Einzelfall bei den Kids heute. Wir können doch nicht bei allen
Losern immer die Eltern und die Gesellschaft haftbar machen. Ich ruf doch nicht
gleich den Therapeuten, wenn eine ein bisschen Party macht.«
Evi schenkte ihm einen merkwürdigen Blick. »Ich setze
dich bei Toni ab. Du hast Hunger, und für einen seiner Busenfreunde hat Toni
sicher auch schon um halb sechs Nahrung. Ich fahr jetzt nach Hause. Mir reicht
es. Du reichst mir.«
Eigentlich hätte Gerhard ja etwas sagen wollen. Aber
er spürte, dass Schweigen in dem Fall wirklich Gold war. Es war sich durchaus
bewusst, dass er verdammt voreingenommen in den Fall eingestiegen war.
Wahrscheinlich war er einfach von zu vielen Frauen umgeben. Tote Frauen,
lebende Frauen, lebendige Frauen. Er war umzingelt von deren komplizierten
Theorien über das Leben. Frauen hatten immer Theorien und einen unendlichen
Erklärungsbedarf zu allem, was sie selbst taten, mehr noch hatten sie den
Bedarf, das zu erklären, was andere taten – was Männer taten. Frauen waren
immer auf der Suche nach Rezepten, wo das Leben doch so einfach war. Schlafen,
wach sein, essen, trinken, sterben. Manche starben früher – so wie Jacky.
Als er bei Antonios Zacheriodakis, vulgo und bayerisch
Toni, im Dionysos an der Theke saß und sich in ein extragroßes Gyros und sein
Weißbier vertieft hatte, ließ die Anspannung langsam nach. Er wählte erneut
Kassandras Nummer und hörte wieder nur, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht
erreichbar sei. Wie lange war eigentlich vorübergehend? Er hätte vielleicht bei
der Schwester anrufen können, aber er wusste ja nicht mal deren Namen. Er
wusste, dass diese mit einem Patentanwalt verheiratet war und immer das good
girl gewesen war im Gegensatz zum schwarzen Schaf Kassandra.
Keiner sprach ihn an, ein, zwei frühe Abendgäste
nickten ihm lediglich kurz zu. Auch das war etwas, was Frauen nie verstanden.
Den gewichtigen Wert des Kneipenschweigens. Und den Wert der schlechten
Freunde: In seiner Ausbildungszeit im verhassten Augsburg hatte sein Kumpel
Matthias auch dort studiert, und sie hatten sich unregelmäßig getroffen: zum
Tütenbauen, Billard und Kickern. Irgendwann hatte ihn Matte mal nach seiner
Adresse gefragt, und Gerhard war völlig konsterniert gewesen. Da wohnten sie
seit einem halben Jahr in derselben Stadt, und sein bester Kumpel wusste nicht
mal seine Adresse und Telefonnummer. Genau das hatte er Matte auch vorgeworfen
mit dem Zusatz: »Na, du bist mir mal ein toller Freund!« Der Konter war einer
der Sätze, die ihn sein Leben lang begleitet hatten und begleiten würden: »Ich
erwarte von dir, dass du mir hundertprozentig hilfst, wenn mir einer in der
Kneipe ein Messer an die Kehle hält. Ich will sicher sein, dass du mich in
Bukarest oder Budapest oder sonst wo abholst, wenn ich dich anrufe, ohne Frage
nach dem Warum. Wo du wohnst, ist mir scheißegal, auch dass wir uns mal
monatelang nicht sehen. Okay, ich bin ein schlechter Freund. Such dir gute
Freunde, oder leb mit den schlechten.«
Gerhard lebte mit den schlechten, mit den Jungs, die
er maximal dreimal im Jahr sah und die er auch in Timbuktu abgeholt hätte. Sie
waren sein Halt, sein loser Faden, und das genügte ihm vollkommen.
Er
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