Nachtpfade
nicht schätzen«, erwiderte Gerhard, der sich öfter mal mit Evis
Promotion für die Kollegin Kienberger konfrontiert sah. Er konnte einfach nicht
so recht mit der Kollegin mit dem dicken Hintern, die wirklich sehr rührig war.
Die immer versuchte, ihm alles recht zu machen. Vielleicht mochte er sie genau
deshalb nicht. Außerdem lebte er getreu dem Allgäuer Motto: »Nix gsagt isch
scho globt.«
Evi fuhr. Präzise und vorausschauend, wie sie auch
lebte. Sie schwiegen, und Gerhard sah aus dem Fenster in die opulente
Farbenpracht des Herbstes. Und er sah doch nur Jacky. Weil Morde an jungen
Frauen stets mehr Beklemmung in sich bargen. Weil diese meist missbraucht
worden waren, vergewaltigt, benutzt, weggeworfen – physisch oder psychisch. Tot
war nicht gleich tot. Der Tod hatte andere Gesichter, wenn die Opfer schwach
waren. Der Tod hatte eine hässliche Fratze. Am schlimmsten waren tote Kinder,
niemand konnte damit umgehen. Gottlob war ihm das bisher erspart geblieben.
Auch er drohte in eine seltsame Stimmung abzurutschen. Melancholie, Wehmut?
Er war froh, als sie in das in jeder Hinsicht kühle
Büro kamen. Kurz darauf berief er ein Meeting ein. Er erstattete Bericht über
die familiäre Situation bei Paulig/Bodenmüller und hieß Felix Steigenberger die
Alibis der beiden zu überprüfen.
Dann wandte er sich an Melanie. »Und, wissen wir sonst
noch was über Jacqueline Paulig?«
»Ich habe einige ihrer Arbeitsstellen nach der
Apotheke notiert und schon mal vorgefühlt.« Melanie las ihre Liste vor und fuhr
fort: »Auf die Schnelle war überall rauszuhören, dass man sie für nicht ganz
normal hielt. Es wird gemunkelt, dass sie ein Verhältnis mit dem Bauern hatte,
bei dem sie wohnte.«
»Gut gemacht, Kienberger. Ein Eifersuchtsdrama oder so
was. Na, das hört sich doch mal nach einem Klassiker an!« Gerhard hatte die
Arme verschränkt und sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt.
Evi lächelte ihn an. »Ich kenn einen, der ist so was
wie mein Chef, und jener hat mal gesagt, man dürfe dem Augenscheinlichen und
Vordergründigen nicht trauen. Das wiederum hat er von seinem großen Vorbild
Peter Baier.«
»Ja, danke für den Hinweis, Frau Kollegin. Sonst noch
Ideen?«, fragte Gerhard.
»Na ja, alle fragen, ihre Arbeitsstellen abklappern,
ihre Freunde ausfindig machen«, sagte Evi.
»Und wo fangen wir an, meine Beste?«
»In Peißenberg, würde ich sagen. In der Apotheke«,
meinte Evi.
»Apothekers sind allerdings gerade auf der
Gewerbeschau mit einem Stand vertreten. Die ist noch bis achtzehn Uhr offen«,
fiel Melanie eilfertig ein, und sie deutete auf die Wanduhr, die jetzt sechzehn
Uhr anzeigte.
»Auch das noch! Na dann, auf zur Gewerbeschau«, knurrte
Gerhard, der solche Messen hasste. Enge Gänge, stinkende Leiber, nichts
Vernünftiges zum Essen. Hunger hatte er nämlich auch, scheußlichen Hunger. Seit
er so wenig schlief, fühlte er sich wie ein Frequent Flyer, der ständig am
Jetlag litt. Schlafstörungen, verquollene Augen, Hungerattacken zur völlig
falschen Zeit.
»Ihr checkt das noch mit den Alibis, und dann macht
ihr mal Schluss«, sagte Gerhard zu Melanie und Felix. Er nickte Evi zu, und
beide verließen das Büro. Als sie die Turnhalle, die als Messezentrum diente,
erreicht hatten, saßen am Einlass Leute vom Roten Kreuz.
»Ham Se ‘nen Ausweis?«, ranzte ihn ein junger
Dicklicher an.
»Ja, ‘nen Polizeiausweis«, giftete Gerhard zurück.
»Sie brauchen ‘nen Ausstellerausweis, sonst drei
Euro«, meinte der ungerührt.
»Und Sie brauchen gleich ‘nen guten Anwalt«, schrie
Gerhard. »Sie behindern hier polizeiliche Arbeit, Sie, Sie …« Dann packte er
Evi an der Schulter und stieß sie an den Typen vorbei.
»Himmel, Weinzirl!«
»Ich habe echt keine Zeit für den Schmarren.« Gerhard
war jetzt schon so was von genervt. Echte Charmebolzen saßen hier am Eingang
der Leistungsschau für Peißenberg. Das machte doch gleich mal Lust auf mehr.
Der schweißlige Geruch von Jahrzehnten von Stinkefüßen haftete der Halle an.
Auf den Rängen saß ein älteres Ehepaar, er im Janker,
sie im Altdamenstrick, den man in einem Laden in Weilheim trefflich erstehen
konnte, und die beiden waren eingekesselt. Von einer Steelband namens Pura
Vida, die einen Lärm veranstaltete, dass das Hallendach bebte. Und dieses
machte keinen so guten Eindruck mehr, zumal Gerhard wusste, dass gerade diese
Halle nach der Reichenhall-Katastrophe sehr argwöhnisch beäugt worden war.
Er hingegen beäugte die Creme der
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