Nachtpfade
Ablauf. Dann drückte sie ihr noch ihre
Karte in die Hand. »Sie können mich jederzeit anrufen, ja, Frau Paulig?«
Gerhard war inzwischen wieder ins Wohnzimmer gegangen.
Jetzt nach der Frische auf dem Balkonbiotop war es noch auffälliger, was für
ein ekliger Geruch aus altem Rauch, Alkohol, billigem Parfüm und Schweiß in den
Vorhängen und Polstern hing. Bodenmüller saß wie ein Häufchen Elend auf der
Couch. Als Gerhard sich zu ihm hinunterbeugte, um die Handschellen zu öffnen,
zuckte er regelrecht zurück. »Dir sagtet nix beim Edelweiß, odr?«
»Nein, aber ich muss Sie ernsthaft verwarnen, Herr
Bodenmüller. Ich drück jetzt mal ein Auge zu wegen des Todesfalles. Aber nur
deshalb. Unterstützen Sie Ihre Lebensgefährtin, die braucht jetzt Ihre Hilfe.«
»Isch dia Föhl ächt hi?« Bodenmüllers rot geäderte
Augen sahen auf einmal traurig aus.
»Ja, Herr Bodenmüller, leider. Wo waren Sie denn
eigentlich heute Nacht?«
Auch er schien die Frage nicht merkwürdig zu finden.
»Im Ringstüble. Do war i zum Schofkopfa.«
»Und Sie haben in letzter Zeit auch nichts mehr von
Jacky gehört?«
»Na!«
»Sie mochten Sie nicht, oder?« Gerhard versuchte,
neutral zu klingen.
»Dia war it ganz ächt! Hot ihrer Muttar allat Sorga
gmacht. Von dera Apotheke in Peißaberg hot dia Chefin amol agrufa, dass es
Probleme geit. Des hob i dr Netti gar it verzehlt. Damit a Ruah isch. Dia Föhl
war it ganz ächt.«
»Nun ist sie tot, tut Ihnen das gar nicht leid?«,
fragte Gerhard.
»Des hot so komma miassa«, sagte Bodenmüller nur und
nahm einen kräftigen Schluck aus der Whiskypulle.
Die beiden Kommissare verabschiedeten sich, schärften
dem Riesen nochmals ein, zur Identifizierung zu kommen und nett zu Netti zu
sein. Sie gingen schweigend zum Auto, Evi setzte sich wieder hinters Steuer und
fuhr los.
»Weißt du, was ich am wenigsten an unserem Job mag?«,
fragte sie.
»Ja«, sagte Gerhard. »Es sind nicht die Toten, nicht
die Leichen, es sind die Lebenden. All diese zerstörten Leben. Ich weiß, Bella,
du hättest gerne eine bessere Welt. Aber es ist eine Scheiß-Welt, um mit Netti
Paulig zu sprechen.«
Evi zog die Mundwinkel hoch. »Ja, es ist beklemmend,
wie oft man das Wort Scheiße verwenden kann. Wie kann sich eine kluge Frau
selber nur so runterwirtschaften? Die ist doch wahrscheinlich Mitte vierzig und
sieht zehn Jahre älter aus, fünfzehn sogar!«
»Falsche Männer, wirtschaftliche Krisen, Alkohol –
immer die gleiche kleine unbedeutende Geschichte.« Gerhard zuckte mit den
Schultern.
»Bedeutend für Jacky!«, begehrte Evi auf. »Ich habe
mir, als du auf dem Balkon warst, mal ihr ehemaliges Zimmer von Bodenmüller
zeigen lassen. Furchtbar, das muss als eine Art Abstellraum gedacht gewesen
sein. Es hat vielleicht sechs Quadratmeter und kein Fenster. Bodenmüller hat da
jetzt ‘nen Kicker drin, und Jackys Tierposter hängen noch an den Wänden.
Vergilbte Poster von Meerschweinchen und Kaninchen. Die Ecken abgeschnitten,
sie hat die Poster wahrscheinlich immer mit Tesa hingeklebt und beim
Runtermachen die Ecken ruiniert. Sie hat die dann abgeschnitten und das Bild
wieder neu befestigt. Ist das nicht traurig?«
Normalerweise hätte Gerhard jetzt einen ironischen
Spruch abgelassen, was denn an Tesa so traurig sei, aber er verkniff es sich.
Weil er Evi verstand, weil es wirklich traurig war, wenn die einzigen Freunde
ein paar Poster waren. Die einzige Habe, die bedeutend gewesen war, Abbilder
von Meersäuen.
»Also, fassen wir mal zusammen«, sagte er fast
schroff. »Jackys Kindheit war wahrscheinlich kein Zuckerschlecken. Ihrem Vater
ist sicher ab und zu die Hand ausgerutscht. Sie erlebt ihre Mutter in
permanenter Verzweiflung und unter Druck. Die Mutter trinkt. Sie zieht in eine
neue Stadt …«
»… in der die Menschen sonderbar sprechen«, fiel Evi
ein.
»In der die Menschen sonderbar sprechen und anders
sind. Sie lebt erst bei einer Freundin der Mutter, dann bei Bodenmüller und
kommt sich immer vor wie das fünfte Rad am Wagen. D’accord?«
»Ja, völlig. Und dann verliert sie mit dem Hund noch
den einzigen Freund. Eine Tragödie und kein guter Start in ein erwachsenes
Leben«, ergänzte Evi.
»Das nicht sehr lange gedauert hat. Jetzt müssen wir
nur noch herausfinden, warum es so enden musste.«
»Wie ich Melanies Arbeitseifer kenne, wird sie uns
schon einiges zu erzählen haben. Melanie ist richtig gut, oder?«, fragte Evi.
»Ja, ist sie, und unterstell mir nicht wieder, ich
würde sie
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