Nachtpfade
oder Lehrerin, alle Ers über die Chefs und die Verspätungen der
Vorortzüge. Und du sitzt da auf der bläulichen Couch – modern, aber doch
zeitlos – und betrachtest deine Freundin. Und auf einmal merkst du: Das ist sie
gar nicht. Sie wohnt ja doch in c, aber sie hat den gleichen gesträhnten
halbkurzen Blondschopf – modisch und zeitlos –, den gleichen Mann, den gleichen
Zaun, das gleiche Mülltonnenhäuschen. Das ganz gleiche uniforme Leben.«
»Das ist eine Scheiß-Geschichte«, knurrte Gerhard. »Du
bist eine Polemikerin, Jo, eine totale Scheiß-Geschichte ist das!«
»Könnte aber so passieren«, meinte Evi und zwinkerte
Jo zu. »Und diese Untersuchung, dass Vorschulkinder zu achtzig Prozent keinen
Purzelbaum mehr können, lässt sich auch auf diese Reihenhäuser zurückführen.
Sie haben keinen Platz; würden sie purzeln, würden sie unweigerlich im Grill des
Nachbarn landen.«
Jo gluckste.
Gerhard war von den beiden in dem Moment abgrundtief
genervt. Das war typisch Jo, und Evi musste da auch noch mitmachen.
Evi schien zu spüren, dass die Situation zu eskalieren
drohte. Sie schenkte Jo diesen warnenden Blick, den sie sonst für ihn
reserviert hatte. Gerhard sah das genau und war einmal mehr froh, dass Evi
seine Kollegin war. Sie hatte sich an ihn gewandt: »Abseits aller Altersfragen
und Reihenhäuser, lass uns mal zum Wesentlichen zurückkommen: Müssen wir uns nicht
allmählich mal eingestehen, dass dieses Nachtwandeln des Mädchens nicht einfach
eine Schrulligkeit war, sondern dass das eine ganz eigene Dimension hatte? Wenn
du ganz ehrlich bist, Weinzirl: Du hast schon sehr früh dementiert, dass Jacky
ernsthafte psychische Probleme hatte. Du hast sie als ein unzuverlässiges Gör
abgetan. Aber wenn wir das hier alles noch mal mit Abstand und ganz neutral
lesen, müssen wir andere Schlüsse ziehen. Da war mehr als eine schwere
Kindheit, die tatsächlich andere auch hatten, die später doch ihr Leben
gemeistert haben. Was ich sehr interessant fand: diese Ablehnung, ein Tier zu
halten, obgleich sie Tiere liebt. Sie hatte überhaupt kein Selbstwertgefühl.«
»Ja, das denke ich auch«, fiel Jo ein. »Als sie damals
so viel Lob für die Nachtwanderung bekam, war ihre Reaktion eher ablehnend. Das
Lob schien sie wirklich aus der Bahn zu werfen. Und das war nicht dieses
Kokettieren, da war wirklich eine echte Beklemmung und Panik zu spüren. Sie ist
dann auf der kleinen Feier einfach verschwunden, ohne den Prosecco, den wir
doch auf sie trinken wollten, auch nur anzurühren.«
Evi nickte. »Ja, das passt ins Bild. Ich habe da eine
Theorie. Ihr dürft jetzt nicht lachen. Aber auch ich habe mir die Protokolle
nochmals vorgenommen. Es war immer von einer Art Flucht die Rede. In der
Wirtschaft, bei den Albrechts. Die Apothekerin sagt, sie sei hinausgerannt. Bei
Jos kleiner Party ist sie auch vor dem Prosecco geflüchtet.«
»Ja und?« Gerhard schüttelte verständnislos den Kopf.
»Ich glaube, sie hat keinen Alkohol vertragen. Nein,
mehr, sie …«
»Bitte? Ist das das Plädoyer der Anti-Alkohol-Liga?
Evi, bitte, bloß weil du nur Mineralwasser trinkst!«
»Quatsch, aber ich hatte dir doch gesagt, ich lese
mich in die Materie ein. Ich habe mal einen Psychiater konsultiert, der
natürlich keine Ferndiagnosen posthum stellen kann. Aber so wie ich ihm Jackys
Leben geschildert habe, sagt er, dass sie wahrscheinlich unter Dissoziation
gelitten hat. Das ist sozusagen eine psychische Reaktion auf ein altes Trauma.
Dem, Weinzirl, darfst du ein gewisses Fachwissen zutrauen. Er hielt meine
Beschreibungen für sehr bedenklich. Es war eine Art Getriebensein. Irgendein
Trigger …«
»Ein was?«, fragte Gerhard.
»Ein Auslöser. Irgendein Auslöser schien sie dazu zu
treiben, herumzugeistern. Ja, es ist tatsächlich wie ein Herumgeistern, hat der
Psychiater gesagt.«
Jo fiel ein. »Ja, ich konnte das vorher nicht so gut
formulieren, aber ich habe sie selbst mehrmals nach so einem frühen
Morgenspaziergang getroffen und hatte den Eindruck, dass sie wirklich nicht zu
wissen schien, wo sie war. Ja, Herumgeistern trifft es.«
»Ihr meint, etwas hat sie unter die Geister
getrieben?«, sagte Gerhard süffisant.
»Der Psychiater sagt, dieses Herumgeistern ist eben
nicht wie Schlafwandeln. Sondern eine bewusstseinsnahe Sache. Aber es bedarf
eines Auslösers, und dabei kann es sich um Alkohol handeln.« Evi machte eine
Pause. »Alkohol am Stammtisch, Alkohol beim Abendessen, sogar reiner Alkohol
bei der
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