Nachtpfade
weggegeben.«
»Oh, wie schrecklich. Dabei waren Tiere ihr Ein und
Alles. Ich habe sie mal beobachtet, wie sie mit meinen Pferden umgegangen ist.
Sie war spazieren mit Falco. Der geht sonst keinen Meter, ohne die Fressbremse
einzulegen. Neben ihr ist der getrottet, ohne dass sie auch bloß am Führstrick
gezogen hätte. Sie waren eine Einheit. Ich war fast ein bisschen eifersüchtig.
Du kannst mich ja gerne in die Klapse einweisen: Aber ich glaube, die beiden
haben miteinander geredet.«
»Hmm! Und wieso hatte sie dann kein Tier, nicht wieder
einen neuen Hund?«
»Sie meinte, ohne rechte Wohnung wär das schwierig.«
»Und wie ich dich kenne, hast du das nicht gelten
lassen.« Gerhard hielt Evis warnendem Blick stand. »Jo, ich meine das nicht
böse, aber du gibst selten auf.«
»Idiot!« Das klang eher wie eine Liebkosung. »Nein,
ich hab nicht aufgegeben, zumal ich gerade ein paar supersüße Welpen gewusst hätte,
die dringend einen guten Platz gebraucht hätten. Kleine Katzen auch!«
»Und sie hat nicht angebissen?«
»Nein, sie hatte plötzlich Tränen in den Augen und
stammelte fast: ›Ich bin nicht gut genug für ein Tier. Nicht gut genug. Ich
versage immer und kann die nicht schützen, die doch Schutz brauchen.‹«
»Und dann?«
»Was hätte ich sagen sollen? Sie hatte doch recht.«
»Bitte? Das sagst du als Mama Samtpfote? Ernährerin
sämtlicher Katzen zwischen Schönberg und Saulgrub?«
»Gerhard, das wirst du nie verstehen. Dir sagen Tiere
nichts. Bis auf jene, die als Landjäger oder Schweinsbraten auf deinem Teller
landen.«
»Jo, das ist jetzt …«
»Bitte, Gerhard, lass mich ausreden. Ich meine das
nicht böse. Du bist gesegnet, dass dir Tiere nichts sagen. Das befreit dich vom
Leid. Ich – und nicht bloß ich –, Menschen wie Kassandra oder Jacky und
Millionen andere haben sich auf eine entsetzliche Gratwanderung eingelassen.
Wir gehen auf einem Grat, von dem der Sturz so schmerzhaft ist, dass ich
zumindest wünschte, ich hätte nie begonnen mit diesem Weg. Tiere zu lieben
heißt loszulassen, sie nicht einzusperren. Vor allem Katzen. Mama Samtpfote
betet jeden Tag darum, dass alle wieder unversehrt auftauchen. Mama Samtpfote
steht da mit bebendem Herzen und ruft und lockt, und mit jeder Katze, die um
die Ecke biegt, jubiliert ihr Herz. Mit jeder, die einen Tag lang etwa nicht zu
sehen ist, schnürt sich die Kehle mehr zu. Denn Katzen verschwinden, verlieren
den Kampf gegen einen Marder, geraten in Mähmaschinen und werden überfahren.
Sie haben auch meinen Kater überfahren, diesen schwulen Pazifisten, den
liebsten von allen, ein Wollknäuel, das immer davon überzeugt war, alle müssten
auch ihn lieben. Er kam auf meinem Kopfkissen zur Welt, er war meine erste
Hausgeburt, er hat mich acht Jahre begleitet. Jeden Tag, viele Stunden. Mehr
als all die anderen meiner Katzen. Weil er in meine Seele sehen konnte. Ich
habe ihn von dieser Straße geholt, ihn heimgetragen in einer Holzkiste. Ihn
beerdigt. Das Bild seines zerschmetterten Köpfchens trage ich in mir. Es
verfolgt mich, es quält mich, und die Qual endet nicht. Es ist dieser Schmerz,
dieser grenzenlose Schmerz. Es ist diese Schuld, diese unverzeihliche Schuld.
Ich bin umgezogen in die Nähe dieser grausamen Straße. Wäre ich im
Bergstätt-Gebiet im Allgäu geblieben …«
Gerhard sah die Tränen in Jos Augen, und die ganze
Situation war ihm unangenehm. Er verstand das wirklich nicht, konnte nicht
einsehen, dass Tierliebe so tief ging. Evi sprang in die Bresche.
»Jo, das ist doch nicht deine Schuld. Es hätte auch im
Allgäu passieren können. Da gibt es auch Straßen.«
»Keine solchen Rennstrecken wie hier. Und deine
Argumentation ist die derer, die nicht lieben. Tiere nicht lieben müssen. Nicht
immer wieder stürzen, hinein in einen Strudel von Schmerz. Der Strudel mündet
nach einer grauenvoll langen Zeit in ein ruhigeres Gewässer. Und selbst wenn es
spiegelglattes Wasser ist und du hineinsiehst, dann ist da wieder nur das Bild
eines zerschmetterten Körpers. Es gibt keine Erlösung. Niemals. Jacky wusste
das sehr genau. Ihr Weg war klüger als meiner. Sich nicht einlassen auf die
Liebe, vorher abblocken, sich dagegenstemmen, gegen den Wunsch, zu beschützen.
Sie wusste, dass du als Mensch nur verlieren kannst.«
Evi schwieg. Sie nippte an ihrem Tee. Dann stand sie
auf und ging zum Haus. Im Gehen sagte sie leise. »Vorher abblocken. Gilt das
auch für die Liebe zu Menschen?«
»Klüger wäre es«, sagte Jo und
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