Nachtpfade
Medikamentenherstellung – sie ist davor weggelaufen, ohne genau zu
wissen, warum und wohin. So was kommt öfter vor, als man denkt, sagt der
Psychiater, er hat auch andere dissoziative Patienten.«
»Gut, lassen wir das mal so stehen. Das würde zu dem
Eindruck passen, den Jo von ihr hatte. Dass sie quasi abwesend war. Alkohol als
Auslöser, möglich«, meinte Gerhard und überlegte kurz. »Aber dann ist Bedienung
so ziemlich der dümmste Job, den sie wählen konnte.«
»Erstens hatte sie wenig Auswahl, und zweitens kennt
der Betroffene den Auslöser ja nicht. Diese Abspaltung ist ein Schutz. Der
Psychiater sagt, dass so was kumuliert. Nimm so einen Stammtisch: Erst geht
alles ganz zivil vonstatten. Trinker durchlaufen einige Stufen der Wirkung von
Alkohol, je länger der Abend dauert. Zunächst werden alle witziger und
aufgeräumter, und dann kommt zunehmend Melancholie, Lebenskrisen treten zutage
oder aber Aggression. Du hast ihre Mutter gesehen. Du selbst hast gesagt, sie
sei Alkoholikerin. Und der Bodenmüller? Man konnte auf hundert Meter erkennen
und riechen, dass der Schwerstalkoholiker ist. Wissen wir, wie ihr Leben
ausgesehen hat, bevor sie volljährig wurde?« Evi schien sehr überzeugt zu sein,
und sie hatte sich gut vorbereitet.
»Nein, genau das wissen wir eben nicht. Und bitte komm
mir jetzt nicht mit irgend so einer Missbrauchskiste.«
Jo war dem Gespräch eine Weile gefolgt und mischte
sich jetzt ein. »Man muss Kinder nicht gleich missbrauchen, um ihnen dennoch
unendlich wehzutun. Durch Missachtung, durch Zerstören ihres Selbstvertrauens.
Durch Lieblosigkeit. Dadurch, ihr den Hund wegzunehmen. Durch seelische
Grausamkeit!«
Gerhard atmete tief durch. »Jo, Evi, das ist sicher
alles wahr. Aber ihre Mutter wird das kaum so sehen wie ihr.«
»Nein, das macht die Tragödie nur größer. Die Wirtin
hat erzählt, dass der Mann ihren Hund weggegeben hat und dass es Frauen gibt,
die immer geringer werden. Das hat mich sehr stark aufgewühlt. Ein kleiner
Satz, ein kleines Wort, das ein ganzes verpfuschtes, verzweifeltes, verlogenes
Leben zusammenfasst«, sagte Evi nach einer Weile.
Gerhard schwieg eine Zeit lang. »Ihre Mutter wird
Gründe haben, dass …«
»Scheiße, Gerhard, es gibt keinen guten Grund, dass
ein Mann das eigen Fleisch und Blut quälen und verjagen darf«, unterbrach ihn
Jo.
»Nein, Jo, es gibt keinen guten Grund, aber viele
schlechte. Die Angst davor, allein fernsehen zu müssen. Die Angst, allein alt
zu werden. Die Gewissheit, unwert zu sein, nicht schön, nicht schlau. Es ist
das System ›Besser den Spatz in der Hand als die unerreichbare Taube
irgendwo‹.«
Evi und Jo sahen ihn überrascht an.
Gerhard fuhr fort: »Mädels, haltet ihr mich wirklich
für so gefühllos, so blind? Gerade ich als Polizist und Evi auch wissen aus
unserem Job nur zu gut, dass es so etwas gibt. Dass ein großer, ja der größere
Prozentsatz aller Beziehungen auf so etwas fußt.«
Evi nickte nur. »Würdest du meine Hypothese also
gelten lassen?«
»Ja, würde ich, weil ich alle deine Hypothesen
schätze. Ich wollte lediglich vermeiden, dass wir die Vergangenheit von Jacky
zu sehr aufwerten und darüber die Gegenwart aus den Augen verlieren. Denn warum
auch immer sie in die Nacht rausgerannt ist, das ändert nichts an der Tatsache,
dass sie ermordet wurde. Im Hier und Heute. Und wenn ich dir in einem
hundertprozentig zustimme: Eine Frau, die schleicht wie eine Katze, hat was
gesehen, das nicht für ihre Augen bestimmt war.«
Jo mischte sich erneut ein. »Hypothese ja, Psyche
nein. Die kommt bei Gerhard nicht vor. Kann man nicht sehen, nicht riechen und
nicht essen!«
»Genau, drum hab ich ja in Evi mein Psycho-Gewissen.
Und, Mädels: von mir aus! Vielleicht ist Nachtwandeln ein psychisches Problem.
Aber mich interessiert das Greifbare: Was war der Grund für den Mord? Hat sie
was gesehen, oder wurde sie einfach ermordet, weil man so was einfach nicht
tut? Weil man nicht einfach in der Nacht lebt statt am Tage?«
»Nun, da wäre sie durchaus in bester bayerischer
Gesellschaft! Der Kini, der Märchenkönig, hat auch komplett in der Nacht
gelebt. Er ist nächtens mit Kutschen zwischen Linderhof und Neuschwanstein
dahingeflogen. Er hat die Zimmer verdunkelt, den Tag ausgesperrt mit seiner
fordernden Helle. Er musste auch sterben. Auch sehr dubios. Auch im Wasser.« Jo
war Feuer und Flamme für ihre eigene Rede, das war zu spüren.
»Jo, er war ein Monarch. Er war ein Opfer
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