Nachtpfade
Job im
Tourismus nachgedacht habe. Jedenfalls ergab es sich so, dass sie einen Monat
so eine Art Schnupperkurs gemacht hat, und ich muss sagen, sie hatte echt das
Gespür.«
»Gespür?«
»Ja, die Sicht der Außenstehenden, die aus einer
komplett anderen Region stammt. Die nicht diese alpine Betriebsblindheit hat
wie wir. Wir wissen ja gar nicht, wie schön es hier ist. Wir kennen unser
Potenzial gar nicht. Zwar kommt das Team größtenteils auch nicht aus den
Ammergauer Alpen, aber wir – Cheffe und ich auch – gehen viel zu akademisch an
die Sache ran. Jacky hat mal zu mir gesagt, wir verschreckten die Leute bloß.
Sie hatte einen echt guten Draht zu unseren bäuerlichen Vermietern.«
»Und dann?«
»Nun, der Monat war vorbei, ich hatte ihr empfohlen,
auf die FOS oder BOS zu gehen, Abitur nachzumachen und
vielleicht Tourismus zu studieren oder eine Ausbildung im Tourismus zu machen.
Ich hätte sie auf jeden Fall unterstützt.« Jo schenkte sich Prosecco aus dem
Weinkühler nach. Auch wenn Jo sonst alles andere als eine Hausfrau war, bei
Getränken hatte sie Stil.
»Und wie fand sie die Idee?«, fragte Evi.
»Es kam mir so vor, als hätte sich eine Tür geöffnet,
die ihr fast etwas Angst gemacht hat. Sie war, so habe ich das empfunden, froh,
dass es für das damalige Schuljahr sowieso schon zu spät war. Über diese
Schwelle zu gehen, eine klare Entscheidung zu treffen, das schien sie zu
überfordern.«
»Und das hast du so hingenommen?« Gerhard sah Jo
scharf an.
»Was hätte ich tun sollen? Ich bin weder ihre Mutter
noch sonst näher bekannt. Mehr als ein Angebot machen kann ich nicht. Und im
Prinzip schadet es ja auch nicht, noch ein bisschen zu jobben.«
»Unsere Jo! Auf ‘nem Bauernhof Kühe zu melken ist kaum
ein richtungweisender Job für den Tourismus, oder?« Es ging schon wieder los.
Gerhard spürte das. Immer wenn er mit Jo diskutierte, vergriff er sich im Ton.
»Meine Seele, Gerhard, du Spießer! Du Meister der
Selbstverleugnung! Dein Lebensweg war ja wahrlich auch nicht durchgeplant!«
»Lassen wir das. Alles war also eitel Freude? Hat sie
bei dir nie diese Nachtwandel-Marotte gezeigt?«
»Sie kam ab und zu um acht ins Büro, mit völlig
verdreckten Bergstiefeln, und war irgendwo zwischen Köpfel und Hochschergen
gewesen.«
»Und sie war nie müde oder unkonzentriert?«
»Was für eine dämliche Frage! Natürlich, aber sie war
eine Volontärin, sie bekam kein Geld.«
»War sie manchmal richtig neben der Spur?«
»Ja, ein-, zweimal wirkte sie auf mich, als ob sich
ihr Bewusstsein abgekoppelt hätte. Sie war irgendwie weggetreten.«
»Und du hast sie nie darauf angesprochen, gerade du?«
Da war er wieder, der ungute Ton zwischen ihnen.
»Ach, und was soll das heißen? Dass ich ein geschwätziges
Stück bin?«
»Nein, aber du bist jemand, dessen Gedanken schneller
zu Worten werden als bei anderen, eine, die an ihren Worten ersticken würde.
Und das ist ja nicht schlecht, und du musst zugeben: Stille Größe,
zurückgezogenes Schweigen – das bist du nicht.«
»Nein, und im Gegensatz zu dir glaub ich auch, dass
Kommunikation besser ist als dumpfschädliges feiges Schweigen.«
»Konfrontation!«
»Nein, Kommunikation!«
Evi mischte sich ein. »Wahl der Waffen? Schwert oder
Keule? Reißt euch mal zusammen!«
»Sorry«, sagte Jo. »Also, ich habe natürlich versucht,
was aus ihr rauszukitzeln.«
»Und?«
»Nichts! Sie liebte eben die Nacht. Zumindest hat sie
das gesagt. Die Geräusche, das Mondlicht, die Sterne. Sie hat uns ein paar
tolle Ideen für unser Kinderprogramm geliefert. Sie hat Pfade entdeckt, da war
vor ihr wahrscheinlich noch keiner außer ein paar Hirschen. Es gab
Felsformationen wie Nashörner oder Elefanten, Wurzeln wie Drachen. Wir haben
einmal sozusagen auf ihren Spuren eine Familien-Nachtwanderung gemacht – die war
ein sensationeller Erfolg. Seien wir doch mal ehrlich: Wir haben Angst vor
Blindschleichen, vor dem nächtlichen Wind in den Bäumen, aber am Münchner
Flughafen gehen wir nachts frohen Mutes durch ein leeres Parkhaus. Wir sind
doch krank! Nicht Jacky.«
»Aber dadurch war sie auch sehr allein.«
»Ja, wenn du menschliche Gesellschaft meinst. Sie hat
niemanden wirklich an sich rangelassen. Ich hab, nervig, wie ich nun mal in
meiner Kommunikationswut so bin, schon versucht, ein bisschen über sie zu
erfahren. Aber mehr, als dass sie den Freund ihrer Mutter nicht mochte, war da
nicht herauszukitzeln.«
»Dieser Freund hat ihren Hund
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