Nachtprinzessin
ins Büro.
Es war acht Uhr dreißig, als sie auf ihrem Drehstuhl saß und mit ihrem Kugelschreiber rhythmisch auf die Arbeitsplatte klopfte, als hätte sie einen Tremor in der rechten Hand. Ben war noch nicht da. Natürlich. Meist war er eher im Präsidium als sie, aber heute machte er es spannend.
Um halb zehn kam er. Glänzender Laune.
»Ich höre«, sagte sie statt einer Begrüßung.
»Du bist tierisch neugierig, ich weiß«, erwiderte er lächelnd und setzte sich an den Schreibtisch. »Aber der Text ist völlig unspektakulär. Beinah banal. Ein Geplänkel zwischen Mörder und Polizei.«
»Ich höre«, wiederholte sie.
»Gut. Also. Er hat geschrieben, Moment …« Ben zog sein Notizbuch aus der Tasche und las langsam: »Keine Leichen mehr, bin verreist, bis bald. P.« Er sah Susanne erwartungsvoll an. »Was sagst du dazu?«
Susanne vergaß allen Ärger über Ben und wurde plötzlich ganz ernst. »Das ist Wahnsinn«, murmelte sie. »Und gleichzeitig brutale Realität. Er teilt uns ganz lapidar mit, dass er weiter morden wird, momentan macht er nur mal ein Päuschen, weil er auf Urlaub ist. Wenn er zurückkommt, geht es weiter. Er fühlt sich absolut sicher, unantastbar, wagt es sogar, uns zu kontaktieren. Unsere Prinzessin ist ein Monster, Ben, und wenn wir ihn nicht stoppen, wird er bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag schwule Jungs umbringen. Das haben wir jetzt schwarz auf weiß. Von ihm persönlich. Und das macht mich krank.«
Ben schwieg. »So seh ich das auch.«
Die Sekretärin kam herein. »’tschuldigung, aber die Laborergebnisse sind da.«
»Schieß los.«
»Die DNA -Spuren der Wimper sind mit denen des Täters von beiden Morden identisch. Es war also kein Trittbrettfahrer und auch kein Wichtigtuer. Der Brief ist echt.«
Susanne fuhr sich nervös durch die Haare. »Das hatten wir schon befürchtet. Danke.«
Die Sekretärin legte die Unterlagen auf den Tisch und ging wieder hinaus.
»Gehen wir heute Abend zum Italiener? Ich hab verloren, ich lad dich ein.«
Ben wand sich. »Heute Abend kann ich nicht, tut mir leid.«
»Okay, dann gleich heute Mittag. Auf ’ne Pizza?«
Schon wieder Pizza, dachte Ben, aber er lächelte und nickte.
42
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Ambra, Juli 2009
Donato Neri verließ sein Büro eine Viertelstunde vor Dienstschluss. Er hielt es einfach nicht mehr aus, untätig herumzusitzen, während er vor Wut fast platzte.
Es war jetzt Viertel vor sieben. Abendbrotzeit. Wahrscheinlich saß Oma schon am gedeckten Tisch und trommelte mit dem Besteck. Das war das Letzte, was er jetzt ertragen konnte, denn wenn Oma dabei war, konnte er nicht mit Gabriella reden. Er musste einen günstigen Moment erwischen, um ihr die schlechte Nachricht zu überbringen, und das ging nur, wenn sie allein waren und Oma nicht auch noch ihren Senf dazugeben konnte.
Bevor er ging, rief Neri Gabriella an. »Es tut mir leid, cara, aber es dauert heute ein bisschen länger. Ich muss noch mal zur Witwe Carmini, weil die überfallen wurde. Ihr könnt ruhig schon essen, ich habe keinen Hunger.«
Gabriella hatte nichts gesagt, nur wütend geschnaubt und aufgelegt.
Das war weiter nichts Besonderes, so reagierte sie häufiger, wenn er später kam, und meist war ihr Zorn nach ein oder zwei Stunden wieder verraucht, daher machte sich Neri darüber keine Gedanken mehr.
Am Nachmittag war er noch einmal bei der Witwe Carmini vorbeigegangen, und diesmal hatte sie einräumen müssen, dass sie die ganze Räuberpistole eventuell nur geträumt hatte und letztlich gar keine Einbrecher im Haus gewesen waren, zumal auch nichts – weder ein paar Euro noch die Brosche von Tante Isadora und erst recht keine Flasche Grappa – geklaut worden war. Und da sich die lustige Witwe gern auch schon mal am Vormittag einen anschäkerte, schlief sie nachmittags häufig tief und fest.
In der Bar setzte er sich vor die Tür und bestellte sich ein Glas kühlen Weißwein und dazu eine große Flasche Wasser. Er trug zwar noch die Uniform, aber er war nicht mehr im Dienst.
Francesca brachte die Getränke, Neri nickte ihr kurz zu, schlug die Beine übereinander und öffnete seine Jacke. Der Abend war immer noch sehr warm, aber die Hitze nicht mehr so drückend und klebrig wie vor einigen Stunden.
Neri war dankbar, dass er unbehelligt blieb, dass sich niemand zu ihm setzte und ihn mit Fragen bombardierte. Das lag vor allem daran, dass die Bar fast leer war. Um diese Zeit wurde in den Familien gegessen.
Eine halbe Stunde später bestellte er ein weiteres Glas
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