Nachtprinzessin
dann noch ausmalte, welches Getier dort herumschwamm, geriet er fast in Panik. Wale, Haie, giftige Seeschlangen und ekelerregende Kraken. Es war einfach entsetzlich.
Er hing auf der hölzernen Bank an Deck wie ein Schluck Wasser, wusste nicht, ob er besser sitzen oder liegen, leben oder sterben sollte. Am liebsten hätte er sich eine Treppe tiefer auf die Toilette geschleppt, aber dann ließ er es bleiben. Er hatte zu viel Angst, dass ihm noch auf dem Weg dorthin schlecht werden würde. Ich werde hier auf diesem Dampfer, auf diesem Oberdeck elendig verrecken, dachte er. Und nie wieder werde ich diese verfluchte Insel verlassen, weil ich nie wieder in meinem Leben ein Schiff betrete.
Neri hatte sich nicht übergeben, aber er schwankte bedenklich, als er von Bord ging.
»Verflucht sei die ganze christliche Seefahrt«, grummelte er leise vor sich hin, als er über die breite Gangway an Land torkelte. »Zum Teufel mit allen Schiffen, Matrosen und Kapitänen dieser Welt, zum Teufel mit dem Meer, mit Wasser, Wind und Wellen, dem ganzen Meeresgetier und dem ganzen Gemurkse, das sonst noch dazugehört.«
Bis zur kleinen Carabinieri-Station war es nicht weit. Die winzigen Büroräume lagen direkt am Hafen, quasi in zweiter Reihe. Dort hatte man zwar keinen Blick aufs Meer, war aber mit ein paar Schritten dort.
Auf Giglio orientierte sich das gesamte öffentliche Leben am An- und Ablegen der Fähren, und so wusste Valentino Minetti fast auf die Minute genau, wann die Urlaubsvertretung aus Ambra, Donato Neri, ankommen und wann er die Polizeistation erreichen würde.
Daher stand Minetti auch schon in der Tür, als Neri die Straße heraufkam.
Valentino Minetti war schon allein durch seine Körpergröße ein beeindruckender Mann. Er war einen Meter fünfundneunzig groß, wog hundertfünfunddreißig Kilo und hatte Pranken wie ein Bär. Wenn er breitbeinig und unbeweglich dastand, wirkte er wie ein Monster, das Bäume mit der bloßen Hand ausreißen und Jungfrauen um die Taille zerquetschen konnte. Er hatte eine Vollglatze, aber das wusste kaum einer, weil er seine Polizeimütze fast nie ablegte. So nackt, wie er ohne sie aussah, fühlte er sich dann auch.
Minetti war auf der Insel eine Respektsperson, gleichermaßen geachtet und gefürchtet. Nur wenn man ihm auf der Straße folgte, sah man, dass er entsetzliche X-Beine hatte und längst nicht so beweglich und so gut zu Fuß war, wie man allgemein vermutete.
Gegen Minetti war Neri eine halbe Portion, und das störte ihn ungemein, als er den Kollegen mit Handschlag begrüßte.
»Herzlich willkommen auf Giglio!«, trompetete Minetti, sodass es die halbe Straße hören konnte. »Kommen Sie herein, ich zeige Ihnen unser Gästezimmer. Kein großer Luxus, aber praktisch und gut. Sie werden sich schnell einleben. Und wenn Sie sich ein bisschen frisch gemacht und ihre Sachen ausgepackt haben, können Sie sich ja noch ein bisschen unsere wunderschöne Insel ansehen. Einen Dienstwagen stellen wir Ihnen zur Verfügung.«
Neri hatte eigentlich wenig Lust auf eine Besichtigungstour gleich am ersten Tag, er wollte sich viel lieber hinlegen und eine salzige Brühe trinken, um seine Übelkeit zu bekämpfen. Ganz sicher stand ihm nicht der Sinn danach, heute noch über Stock und Stein zu stolpern. Aber er widersprach Minetti nicht und versuchte, interessiert und erfreut auszusehen.
»Aber auf alle Fälle treffen wir uns heute Abend bei Lino. Das ist das dritte Lokal, direkt am Hafen. Da essen wir zusammen und können alles Weitere in Ruhe besprechen. Einverstanden?«
»Va bene.« Neri schlug in die Hand ein, die Minetti ihm hinhielt.
»Also dann um acht.«
Minetti ließ Neri allein und marschierte die Straße hinunter.
Neri sah sich um. Das Büro war in der Größe vergleichbar mit seinem Büro in Ambra, nur dass die Wände nicht gelb, sondern lindgrün gestrichen waren, was Neri überhaupt nicht leiden konnte. Eingerichtet war es ähnlich karg und funktionell, über dem Schreibtisch hing eine Karte der Insel, auf der die drei existierenden Straßen fett eingezeichnet waren. Sonst war sie übersät mit Symbolen: ein Froschmann für gute Tauchgründe, ein Sonnenschirm für einen schönen Strand, ein Stern für einen guten Aussichtspunkt und ein Wigwam für die Möglichkeit zu campen.
Auf dem Fensterbrett rostete eine alte Espressomaschine, die ihre besten Zeiten schon lange hinter sich gelassen hatte, und dem Schreibtisch gegenüber stand ein wenig einladender, schlichter Holzstuhl.
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