Nachtprinzessin
et cetera ein bisschen behilflich war. Ich hab ihn sozusagen engagiert und dafür bezahlt. Während meiner Abwesenheit sollte er bestellte Möbel in Empfang nehmen und noch einige Kleinigkeiten besorgen, damit die Wohnung bewohnbar ist, wenn ich komme.«
»Wie heißt der junge Mann?«
»Ich weiß nur, dass er Gianni heißt. Seinen Nachnamen kenne ich gar nicht.«
Neri und Alfonso sahen sich an. Neri war kalkweiß im Gesicht.
»Das Vergewaltigungsopfer war dieser Gianni«, erklärte Neri tonlos.
Matthias zeigte blankes Entsetzen. »Waaas? Dann ist er hier in meiner Wohnung überfallen worden?«
»Wir wissen nicht, was sich abgespielt hat.«
»Oder er hat mich hintergangen und hat sich hier in meiner Wohnung mit Freunden getroffen? Das war so nicht gedacht, und das war ihm auch nicht erlaubt. Das ist ein Unding! Ich bin wirklich entsetzt, denn ich habe ihm eigentlich immer vertraut.«
Eine Weile schwiegen alle drei.
Matthias sah sich im Zimmer um. Das Bett war gemacht, nichts erinnerte mehr an die fatale Nacht. Seidenschal, Handschellen, Gläser und was sonst noch so herumgestanden hatte, waren natürlich nicht mehr da, wahrscheinlich war alles zur polizeilichen Untersuchung im Labor verschwunden.
Fast erfroren hatte der Polizist gesagt. Also lebte Gianni noch. Das war das größte Problem an der Sache. Wenn er anfing zu plaudern, hatte Matthias äußerst schlechte Karten.
»Wie geht es Gianni?«, fragte er daher.
»Schlecht. Noch ist nicht klar, ob er überlebt. Zurzeit liegt er im künstlichen Koma.«
Aha. Also gab es noch eine kleine Verschnaufpause. Aber er musste sich etwas überlegen, denn man lag vielleicht zwei, drei Wochen im künstlichen Koma, aber nicht ewig. Und Gianni würde reden, da war er sich ganz sicher.
»Wo denn? Ich meine, in welchem Krankenhaus liegt er denn?«
»In Siena«, antwortete Alfonso für Neri vielleicht ein bisschen voreilig, denn Neri überlegte sich noch Stunden später, ob es richtig gewesen war, dem Fremden zu verraten, in welchem Krankenhaus sich Gianni befand.
»Gut«, sagte Neri abschließend, und seine Stimme klang müde. »Das wäre für heute erst mal alles. Aber es könnte sein, dass wir morgen noch einmal wiederkommen, wenn wir noch einige Fragen haben.«
»Jederzeit. Kein Problem.«
Matthias brachte die beiden Carabinieri zur Tür.
»Buonasera e arrivederci.«
»ArrivederLa.« Neri und Alfonso verließen die Wohnung, und Matthias zog hinter ihnen die Tür ins Schloss.
Jetzt wusste er wenigstens Bescheid.
Auf jeden Fall war es kein Fehler gewesen, die Carabinieri zu rufen.
Er ging in seine Küche, öffnete eine Flasche Wein und setzte sich allein an den großen Tisch – an dem er noch vor ein paar Tagen mit Gianni gesessen hatte –, um nachzudenken, was er als Nächstes tun musste.
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Montag, 12. Oktober 2009
Gabriella hatte keine Kraft mehr. Sie war nur noch ein Nervenbündel, hochgradig gereizt und weinte viel.
Oma war zu Hause eingesperrt, randalierte oder telefonierte mit Menschen, die sie an den Apparat bekam, wenn sie eine Nummer wahllos ins Telefon getippt hatte, und erzählte ihnen ihre Lebensgeschichte, wenn sie nicht gleich auflegten. So erfuhren Wildfremde von Sizilien bis hinauf nach Triest, dass ihre Tochter einen Liebhaber hatte, ihr Schwiegersohn zu dumm war, Eier in der Pfanne zu braten, und ihr Enkel gerade seinen Doktor in Frankreich machte.
Gabriella war es mittlerweile egal, was ihre Mutter Gloria für einen Unfug in die Welt hinausposaunte. Sie saß von morgens bis abends im Ospedale von Siena und starrte durch die dicke Milchglasscheibe auf ihren Sohn Gianni, der sich nicht regte und noch nicht einmal zu atmen schien. Sein Hals war überstreckt, seine Augen geschlossen, und seine Nase ragte kerzengrade in die Höhe, als würde sie durch eine unsichtbare Schnur an der Decke nach oben gezogen.
In dieser Haltung hatte sie ihn früher noch nie gesehen, aber so lag er nun schon seit Tagen.
Es war alles so absurd.
Und obwohl sie nicht den leisesten Kontakt zu ihm aufnehmen konnte, schaffte sie es auch nicht, nach Hause zu gehen.
Vielleicht gab es ja irgendwann doch eine Rückkehr. Eine Auferstehung. Und in dem Moment wollte sie da sein.
Jeden Abend nach Dienstschluss kam Neri und holte sie ab. Im Auto sprachen sie wenig über Giannis Zustand, es tat einfach zu weh, dafür umso mehr über den Fall, in dem Gianni auf so verhängnisvolle Weise eine Hauptrolle spielte.
»Eins ist ganz klar«, sagte Gabriella müde, als sie
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