Nachtprinzessin
er sich stur.
»Du kannst mich mal!« war der einzige Kommentar, den er abgab, als er mit ruhigen Schritten und hoch erhobenen Hauptes das Zimmer verließ.
Wie Thilda reagierte, wusste er nicht. Er drehte sich auch nicht um und konnte daher nicht sehen, ob sie weinte oder nicht.
Es interessierte ihn einfach alles nicht.
Er erwachte, weil ihm der penetrante Geruch von frisch aufgebrühtem Fencheltee in die Nase stieg, den er ekelerregend fand. Wie jeden Morgen. Beim Zähneputzen hatte er jedes Mal Mühe, sich nicht direkt ins Waschbecken zu übergeben, manchmal glaubte er sogar den Gestank von faulen Eiern eher zu ertragen.
Thilda rumorte in der Küche herum, und er hielt es im Bett nicht mehr aus, obwohl er sich todmüde und zerschlagen fühlte. Es war jetzt zwanzig nach neun, liebend gern hätte er noch zwei Stunden geschlafen, aber es ging beim besten Willen nicht. Sie würde jetzt bis zum Mittagessen ununterbrochen Fencheltee trinken, es war einfach widerlich.
Er rollte sich aus dem Bett und spürte sofort die kalte Luft, die durch seinen viel zu dünnen Schlafanzug zog. Sowohl im Sommer als auch im Winter schlief er in seidenen Pyjamas, weil er den glatten Stoff auf seiner Haut erhaben und erregend fand, auch wenn die Seide im Winter eher kühlte als wärmte.
Barfuß trat er ans Fenster. Durch die dicken, dunkelgrauen Wolken drang kaum Tageslicht. Die Luft war erfüllt von einem nasskalten Schnee-Regen-Gemisch, der Bürgersteig glänzte feucht, und beim Anblick der kahlen Bäume überkam ihn Entsetzen.
Eine tiefe Schwermut erdrückte ihn fast, er wusste einfach nicht, wohin mit sich. Er wusste nur, dass er Thilda jetzt nicht sehen, nicht mit ihr sprechen und die Fencheldünste, die sie umgaben, nicht ertragen konnte.
Im Bad beeilte er sich, obwohl es unsinnig war. Er zog sich die wärmsten Sachen an, die er auf den ersten Blick im Schrank finden konnte, und verließ – von Thilda unbemerkt – das Haus.
Als er im Wagen saß und den Motor startete, entspannte er sich. Ein ganz selten gewordenes Gefühl von Freiheit wärmte ihn innerlich wie eine Tasse heißer Kaffee nach einem Spaziergang im Schnee. Er sah in sein Portemonnaie. Viel Geld hatte er nicht mehr. Es reichte gerade noch, um einmal zu tanken und mittags eine Kleinigkeit zu essen. In keinem Fall konnte er irgendwo übernachten.
Und plötzlich wusste er, wohin er fahren würde.
Thildas Onkel Friedrich von Dornwald war Matthias bei seiner Hochzeit durch ein beeindruckend unkonventionelles Verhalten aufgefallen. Er scherte sich nicht um Etikette und schien seiner eigenen Sippe – derer von Dornwald – eher skeptisch als loyal gegenüberzustehen. Ganz beiläufig hatte er in einem kurzen Gespräch Matthias eingeladen, doch bei Gelegenheit einfach mal vorbeizukommen.
Friedrich besaß ein riesiges Landgut in der Nähe von Kassel. Ein Haupthaus, das man schon fast als kleines Schloss bezeichnen konnte, mit zwölf Zimmern, drei Bädern und einer Eingangshalle, in der man hätte Fahrrad fahren können, ein Gesindehaus mit noch einmal sechs Zimmern und zwei Bädern, drei Garagen und Stallungen mit Boxen für insgesamt sechzehn Pferde. Außerdem einen riesigen Schuppen, in dem Traktoren und landwirtschaftliche Geräte aller Art untergestellt waren. Mit seiner Frau Mechthild lebte er hier seit seiner Heirat vor neunundzwanzig Jahren kinderlos und war mit seinem Schicksal durchaus zufrieden. Er wusste, dass er weder etwas verpasst noch etwas ausgelassen hatte, und sah dem, was noch kommen würde, voller Neugier, aber auch mit Gelassenheit entgegen.
Gerade als Matthias vor dem Haus hielt, kam Friedrich auf einem Traktor angefahren. Er bremste, stutzte, sprang vom Trecker, und erst jetzt erkannte er ihn und ging mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.
»Jungchen!«, brüllte er. »Das ist aber eine Überraschung! Ich hab mich schon gewundert, welcher Schnösel mir hier mit seinem Porsche die Einfahrt versperrt. Komm rein!«
Matthias kam gar nicht dazu, irgendetwas zu sagen, da schüttelte Friedrich ihm schon mit seiner mächtigen Pranke die Hand.
Schon lange hatte sich Matthias nicht mehr irgendwo so willkommen gefühlt wie von der ersten Minute an bei Friedrich. Die Novembertristesse war verschwunden. Hier bin ich richtig, dachte Matthias, als ihm Friedrich das Landgut zeigte. Dieser Mann, dieses Haus – das ist einfach klasse.
Als sich Mechthild gegen sieben um das Abendessen kümmerte, ließ sich Friedrich in einen englischen Sessel fallen und
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