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Nachtprinzessin

Nachtprinzessin

Titel: Nachtprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Messerstiche. Jeder Gedanke tat weh. Ich werde weglaufen, dachte er, abhauen. Ganz weit weg. Irgendwohin in ein fremdes Land. So weit, dass sie mich niemals finden, dass ich ihn nie wiedersehen muss.
    Auf der einen Seite machte ihm diese Idee noch mehr Angst, aber auf der anderen beruhigte sie ihn auch. Er war völlig durcheinander.
    Offensichtlich war er ein paar Minuten eingeschlafen, denn als er aufwachte, war sein Vater bei ihm und suchte unter seinem Arm nach dem Thermometer, das immer noch genau dort steckte, wo es sollte.
    Er bekam eine steile Falte auf der Stirn, als er das Thermometer hin und her kippte, um die Quecksilbersäule besser zu erkennen.
    »Der Junge hat Fieber«, murmelte er mehr zu sich als zu Alex.
    Er setzte sich zu ihm aufs Bett.
    »Was machen wir denn bloß mit dir?«, meinte er liebevoll und strich ihm den schweißnassen Pony aus der Stirn. »Wahrscheinlich hast du eine Sommergrippe. Ich werde mich im Hotel mal nach einem Arzt erkundigen. Jetzt bleibst du jedenfalls erst mal im Bett. Hast du Appetit auf eine Brühe?«
    Alex schüttelte den Kopf, schloss die Augen und drehte sich zur Seite. Er konnte jetzt niemanden in seiner Nähe ertragen, und seinen Vater am allerwenigsten.
    »Gut. Dann hole ich dir nur etwas zu trinken und vielleicht ein bisschen Obst.«
    Matthias streichelte ihm die Wangen. »Schlaf dich gesund, mein kleiner Schatz, ich komme bald wieder.«
    Damit stand er auf und ging hinaus.
    Als die Hotelzimmertür hinter ihm ins Schloss gefallen war, fing Alex an zu weinen, wie er noch nie in seinem Leben geweint hatte.
    Alexander schüttelte sich. Er wollte einfach nicht mehr an damals denken, er wollte einfach nicht daran denken! Aber die Bilder verblassten nicht, waren so frisch in seinem Kopf wie damals vor vierzehn Jahren.
    Er setzte die Kopfhörer auf und drehte die Lautstärke bis zum Anschlag. Die Bässe des dumpfen Techno-Rhythmus donnerten ihm ins Gehirn, als würde er seinen Kopf mit aller Gewalt gegen die Wand schlagen. Sie hauten ihm die Gedanken aus dem Schädel, bis er vergessen hatte, dass er überhaupt noch lebte.

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    »Mama! Hörst du mich?«
    Keine Reaktion.
    Henriette von Steinfeld saß in ihrem Sessel wie eingefroren oder aus Wachs modelliert im Wachsfigurenkabinett von Madame Tussauds. Ihre Miene blieb unbeweglich und starr, dabei sah sie ungewöhnlich gut aus. Ihre Haut erschien ihm glatter als sonst, mit ein wenig Make-up hätte sie gewirkt, als hätte sie eine Verjüngungskur hinter sich.
    Sie atmete ruhig, zitterte nicht, aber Matthias bemerkte, dass sie viel zu selten mit den Augenlidern blinkte.
    »Du siehst gut aus, Mama.«
    Zumindest dieser Satz hatte immer ein Lächeln in ihr Gesicht gezaubert, aber nichts geschah.
    Das halte ich nicht aus, dachte Matthias, das ist die Hölle auf Erden. Da bin ich schlicht überfordert.
    Er legte seine Hand unter ihre. »Meinst du, du schaffst es, einmal zu drücken, wenn du meine Fragen mit Ja beantwortest, und zweimal, wenn du Nein sagen willst? Wollen wir das mal versuchen?«
    Sie drückte nicht, aber vielleicht hatte sie die letzte Frage auch nicht als Frage aufgefasst.
    »Also gut, dann fangen wir jetzt an. Hast du heute schon zu Mittag gegessen?«
    Sie drückte nicht.
    »Kannst du verstehen, was ich sage?«
    Nichts. Wie konnte ein Mensch nur so verflucht still sitzen. Das war einfach unvorstellbar.
    »Vielleicht ist es leichter für dich, wenn du bei Ja einfach nur die Augen schließt und bei Nein zweimal hintereinander?«
    Sie reagierte nicht.
    »Ich finde, hier im Zimmer ist es unerträglich heiß. Ist dir zu warm?«
    Ihre Augen blieben starr und offen.
    »Soll ich dir die Jacke ausziehen?«
    »Möchtest du etwas trinken?«
    »Soll ich mit dir in den Garten fahren?«
    Langsam wurde er wütend. Er hatte Lust, sie zu schütteln und zu schlagen, ihr wehzutun, bis sie sich einfach wehren und bewegen musste.
    Unschlüssig stand er im Zimmer herum und starrte auf die wenigen Bilder, die im Zimmer hingen. Eine Frau im blauen Gewand und mit weißem Strohhut über dem Bett. In der Hand hielt sie eine rote Gerbera und blickte mit gesenktem Kopf auf die Blüte, als wollte sie gleich anfangen, die Blütenblätter abzuzupfen: Er liebt mich, er liebt mich nicht …
    Matthias fand das Bild unerträglich kitschig und primitiv.
    Über dem Fernseher hing ein Landschafts-Fotodruck. Auf einem Hügel ein einsames Haus, daneben einige Zypressen. Vor dem Haus ein weites, blühendes Sonnenblumenfeld. Die Sonne versank glutrot

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