Nachtprinzessin
der Leitung. Dann schrie Jürgen wieder. »Was bist du denn für ein Vollidiot? Ich fasse es nicht! Wie bescheuert ist das denn?«
»Is’ echt scheiße. Ist mir klar.«
»Wie lange?«
»Drei Wochen. Erst mal.«
Jürgen prustete wie ein Walross.
»Pass mal auf, mein Freund: eine Woche. Ist das klar? Und keinen Tag länger. Sieh zu, dass du wieder gesundgeschrieben wirst. Wie, ist mir wurscht. Und dann beweg deinen Arsch hierher. Sonst kannst du dir deine Papiere abholen. Hast du das kapiert, du Schwachkopf?«
Alex nickte in den Telefonhörer.
»Ob du das kapiert hast?«, blökte Jürgen.
»Ja.«
»Na also.« Jürgen legte auf.
Alex wusste, dass er seine Wut jetzt an irgendeinem Azubi oder Commis austoben würde. Beschimpft und beleidigt wurde man in der Küche sowieso unentwegt, gebrüllt wurde immer, das war normal, aber jetzt pickte er sich sicher noch einige raus, die er unnötig antreiben oder schikanieren konnte. Die er außerdem mal kurz im Kühlraum einsperrte oder denen er in die Suppe spuckte. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Das, was Jürgen verlangte, war völlig unmöglich. In einer Woche war er auf keinen Fall fit genug, um wieder voll zu arbeiten und diesen Stress auszuhalten. Also würde er seinen Job verlieren. Wie schon so oft.
Er hüpfte auf Krücken zum Kühlschrank und öffnete sich eine neue Flasche Bier. Die wievielte heute wusste er nicht, aber noch fühlte er sich einigermaßen klar. Langsam und bedrohlich kroch die Depression seinen Nacken hinauf, wie eine Schlange, die sich beinah zärtlich um den Körper schmiegte, den sie erdrosseln wollte. Wenn das Opfer ausatmete, zog sie ihre tödliche Umarmung fester zu, bis kein Raum mehr für einen Atemzug blieb. Er trank schneller, um sich zu betäuben und nicht denken zu müssen, aber er konnte nicht verhindern, dass immer wieder die Bilder auftauchten, die letztlich schuld daran waren, dass er gestrandet war. In einem riesigen Loft, ohne Liebe, ohne Familie, ohne Freunde, ohne Geld. Mit einer menschenunwürdigen Arbeit ohne Perspektive. Er fühlte sich angeschwemmt wie zersplittertes, verlorenes Strandgut, das zu nichts weiterem nütze war, als verheizt zu werden.
Es war vor dreizehn Jahren, im Juli 1996. Matthias und Thilda machten mit ihrem elfjährigen Sohn Alexander Urlaub auf Fuerteventura.
Alex konnte es gar nicht glauben. Tag für Tag war der Himmel über dem Meer tiefblau, die Sonne strahlte unermüdlich, und nur selten zeigten sich einige Schäfchenwolken.
»Was für ein Wetter!«, seufzte Thilda jeden Morgen selig, schulterte die Badetasche, und sie wanderten zum Strand. Alexander war restlos glücklich. Der kilometerweite Strand war für ihn das Paradies, Freiheit pur und Sand, so weit das Auge reichte. Für sein Leben gern hatte er als kleines Kind im Sandkasten gespielt, und Sand war für ihn fast so geheimnisvoll und unwirklich wie Wasser.
Und nun waren sie hier an einem Strand, und die ganze Welt war voller Sand. Es gab für ihn nichts Gewaltigeres, als barfuß durch den weißen Sand zu laufen, immer weiter, immer weiter, bis zum Meer, wo die Wellen unermüdlich über den Sand rutschten und in der Sonne glitzerten. Er war in einer Zauberwelt und konnte sich nichts Schöneres vorstellen.
Seine Mutter lag am Rand der Dünen auf einem großen Badetuch, hatte alle drei Tage ein neues dickes Buch auf den Knien und trug eine riesige, undurchsichtige Sonnenbrille, in der sich Strand, Meer und Himmel spiegelten.
Jeden Vormittag gingen Vater und Sohn gemeinsam im Meer schwimmen, dann bauten sie Strandburgen, Krokodile und Schildkröten aus Sand, und Matthias ließ sich bereitwillig bis zum Hals eingraben.
Nachmittags ging Matthias immer spazieren. Stundenlang. Alex fragte ihn, ob er mitkommen könne, aber Matthias erklärte: »Bitte, Schatz, ich brauche ein paar Stunden am Tag für mich. Ich muss einfach mal allein sein. Sei nicht böse, aber das ist nun mal für mich die allerbeste Erholung. In der übrigen Zeit bin ich ja immer für dich da.«
»Kein Problem, alles klar.« Alex war zwar ein bisschen enttäuscht, aber er hatte dennoch Verständnis dafür. Offensichtlich hatte sein Vater so viel nachzudenken, weil er einfach auch wahnsinnig schlau war. Noch nie hatte er erlebt, dass sein Vater auf seine Fragen keine Antwort wusste, und wenn er sie nicht gleich beantworten konnte, präsentierte er ihm die Antwort garantiert einen Tag später.
Alex war davon überzeugt, dass er den fantastischsten Vater der Welt hatte. Was
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