Nachtprinzessin
waren nicht viele Menschen, die in dieser abgelegenen Seitenstraße an seinem Tisch vorbeischlenderten, dafür konnte er sich auf die einzelnen besser konzentrieren.
Ein junges Paar ging Arm in Arm langsam an der Trattoria vorüber, und er bemerkte genau, dass die Frau ihn eingehend musterte. Er genoss diesen Blick und war sich bewusst, dass seinen Mund ein sanftes, selbstbewusstes Lächeln umspielte. Das Leben konnte so einfach sein. Wärmende Sonne am Tag, ein beruhigendes Glas Wein und Liebe in der Nacht. Es war ihm klar, dass er ein Mann war, der auffiel. Seine Gesichtszüge waren herb und männlich und standen im reizvollen Kontrast zu dem jetzt tief dunklen, leicht gewellten Haar. Sein Körper war schlank und machte einen sportlichen Eindruck, obwohl er nicht im Traum daran dachte, sich sportlich zu betätigen. Sich allein abzurackern langweilte ihn unendlich, und sich in einer Mannschaft oder in einem Fitnessstudio zusammen mit anderen schwitzenden Leibern zu bewegen widerte ihn an.
Sein Lächeln blieb unergründlich, und die Frau wandte sich wieder ihrem Begleiter zu, dem sie nichts davon sagte, dass sie der Fremde in dem kleinen Restaurant beeindruckt hatte. Matthias war sehr zufrieden, und unwillkürlich wurde sein Lächeln breiter.
Er saß ungefähr eine halbe Stunde lang so da, trank langsam, beobachtete und staunte. Was gab es in Italien doch für schöne Menschen, dachte er. Oder lag dieser Eindruck am weichen Licht der Abendsonne, den erhaben wirkenden, aber teils verrotteten, mittelalterlichen Gebäuden und der besonderen italienischen Atmosphäre, die man nicht fassen und nicht beschreiben konnte, die aber durch jedes Dorf und jede Stadt wehte? Matthias schloss die Augen und hörte die Musik von Verdis Macbeth, die in seinem Kopf erklang.
Als er seine Augen wieder öffnete, saßen am Nachbartisch zwei Männer, und die Oper in seinen Gedanken verstummte jäh. Der jüngere der beiden hatte ungewöhnlich dünnes, weiches Haar und wulstige, beinah weibliche Lippen, der ältere trug einen Vollbart, und sein Haar war bereits leicht ergraut und ungefähr auf dieselbe Länge gestutzt wie der Bart. Seine Augen waren dunkel, fast schwarz. Wie die Knopfaugen eines übergroßen Teddybären.
Matthias überlegte, ob die beiden Freunde, Geliebte oder Vater und Sohn waren. Der Jüngere bestellte ein Glas Prosecco, der Ältere einen Campari Soda.
Noch nie hatte er bei einem Jüngling so volle Lippen gesehen. Er konnte nicht aufhören, ihn anzustarren, und immer wenn ihm der Blick des anderen begegnete, lächelte Matthias entschuldigend. Von dem, was die beiden sagten, verstand er kein Wort, was ihn ärgerte. Wozu hatte er jahrelang italienische Vokabeln gepaukt, wenn er jetzt, wo er ein Gespräch belauschen wollte, kein einziges Wort übersetzen konnte? Seine ursprüngliche unerschütterliche Selbstsicherheit war einer Hilflosigkeit gewichen, die Blicke des Jungen irritierten ihn zunehmend, und er glaubte sich einzubilden, dass die ohnehin schon stechenden Augen des Bärtigen härter wurden und in ihnen eine Spur von Aggressivität aufblitzte.
Er kannte solche Augen. Sie blinkten kurz warnend auf, und dann kam die Aggression. Das hatte er einmal erlebt. Bei einem Autofahrer, dem er den Parkplatz weggenommen hatte, indem er elegant vorwärts in die Lücke glitt, während der andere noch in zweiter Spur wartete, um ihn vorbeizulassen. Der Autofahrer hatte nicht lange diskutiert, sondern ihm einfach durch das offene Fenster direkt ins Gesicht gespuckt. Über Matthias’ Augen und Wange lief zäher, dickflüssiger und übelriechender Schleim, den der Fremde zu diesem Zweck extra heraufgehustet haben musste. Der Ekel brachte ihn fast um. Er schnappte nach Luft, glaubte sich übergeben zu müssen und fürchtete, der Schleim würde ihm auch noch in den Mund laufen. Mit fliegenden, zitternden Händen suchte er nach einem Taschentuch und heulte wie ein Schlosshund, als er sich den schmierigen Speichel vom Gesicht wischte und dabei noch großflächiger verteilte. Er hatte das Gefühl, den säuerlichen Gestank, den er unentwegt roch, nie wieder loszuwerden, und wusste nicht, was er machen sollte. Der Autofahrer, der ihn angespuckt hatte, war äußerst zufrieden wieder in sein Auto gestiegen und losgefahren. Matthias sprang aus dem Wagen, rannte in das nächste Geschäft, fragte nach einer Toilette und wusch dort dann so lange sein Gesicht, bis er es wieder einigermaßen aushalten und wieder atmen konnte.
Er brauchte
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