Nachtprinzessin
geschah, merkte er erst, als es zu spät war.
Matthias erledigte seine morgendlichen Stretching-Übungen und tänzelte ins Bad. Vielleicht noch ein klein wenig bewusster und stolzer als sonst.
Um zehn Uhr hatte er einen Friseurtermin, ließ sich die Haare schwarz färben, fühlte sich danach schon fast wie ein Italiener und war um halb zwölf auf der Autobahn.
Italien war schon immer seine Leidenschaft gewesen. Nach seiner Heirat mit Thilda hatte er einen Italienischkurs belegt, denn er hatte so ein vages Gefühl gehabt: Wenn er irgendwo einmal groß herauskommen würde, dann in diesem Land. Und in Deutschland machte es viel her, wenn man ein wenig die italienische Sprache beherrschte.
Er wusste nicht, wie lange er ganz in Gedanken über die Crete geschaut hatte, aber jetzt kam ein frischer, kühler Wind auf. Daher beendete er seine Pause und fuhr weiter.
Bereits eine Stunde später erreichte er Siena.
Normalerweise war das Hotel nicht leicht zu finden, aber er war so oft hier gewesen, dass er den Weg durch die verwinkelten und sich ähnelnden Gassen wie im Schlaf fand. Hinter dem Hotel gab es einen engen Parkplatz mit fünf Plätzen, der von der Straße aus nicht durch ein Schild angekündigt wurde und daher fast ein Geheimtipp war.
Matthias fuhr durch den Torbogen in die enge, schlauchartige Einfahrt und atmete erleichtert aus, als er sah, dass der letzte Platz vor einer Brandmauer noch frei war. Er musste fünfmal hin und her rangieren, bis er es geschafft hatte, den Porsche in die Lücke zu bugsieren, dann stieg er aus und ging über den Hof direkt durch den Hintereingang zur Rezeption.
Die junge Frau hinterm Empfangstresen erkannte ihn sofort. »Dottore!«, rief sie erfreut. »Benvenuto a Siena!«
Matthias genoss es, wenn er Dottore genannt wurde. Er hatte niemals behauptet, ein Dottore zu sein, aber offensichtlich machte er den Eindruck. Gnädig lächelnd begrüßte er die junge Angestellte und zückte seinen Amerigo-Vespucci-Füllfederhalter, der auch auf die Frau an der Rezeption Eindruck machte. Jedenfalls starrte sie den Füller eine Sekunde zu lange an.
»Ich habe ein Zimmer bestellt. Von Steinfeld.«
»Un attimo!« Sie schlug in einem Kalender nach und nickte. »Zimmer 215. Va bene. Come sempre.«
Er bestellte immer dasselbe Zimmer, weil es einen Blick zum Dom hatte und einen kleinen Erker, den er einfach entzückend fand. Schon manches Mal hatte er dort an einem winzigen Tischchen gesessen und mit seinem Begleiter eine Flasche Wein geleert. Er hatte die allerbesten Erinnerungen an dieses Zimmer, und in diesem Hotel wurden seine Männerbesuche geduldet. Was man aber auch von dem besten Hotel am Ort erwarten konnte.
Es war alles unverändert. Als wäre er gestern hier gewesen. Er öffnete das Fenster, weil es im Zimmer leicht muffig roch. Straßenlärm drang herauf bis zum zweiten Stock. Kindergeschrei, das Knattern der Vespas, entferntes Hupen, und hinter einem der offenen Fenster in dieser Straße dudelte ein Radio.
Da es im Zimmer ziemlich dunkel war, weil nur die Morgensonne das Erkerfenster erreichte, machte er sich im winzigen Bad schnell frisch. Er wechselte das Hemd, steckte sein Reiseportemonnaie ohne Papiere, aber mit einigen Euro ein und verließ das Hotel.
Langsam schlenderte er durch die engen Gassen. Überall hörte er von Touristen deutsche Sprachbrocken, was ihn störte. Er wollte nicht ihresgleichen sein, wollte nicht mit ihnen identifiziert oder verwechselt werden. Er war anders. Kein normaler Urlauber. Etwas Besonderes. In diesem Land war er schon lange kein Fremder mehr, fühlte sich schon wie ein halber Italiener, irgendwie zu Hause.
Als er nicht auf der Piazza del Campo, die er als Sammelpunkt der Touristen und somit als abstoßend einstufte, sondern in einer verschwiegenen Nebenstraße in einer Trattoria saß und einen schweren Brunello trank, wurde ihm allmählich klar, womit er sich endlich und endgültig von diesen primitiven Toskana-Urlaubern, die penetrant mit hässlichen Beinen in kurzen Hosen, Socken und Sandalen durch die Gegend stapften, absetzen und unterscheiden konnte: Er brauchte einen italienischen Wohnsitz. Sein Wunsch und halbherziger Plan war es ja schon lange, aber jetzt spürte er, dass es an der Zeit war. Dass es für ihn notwendig wurde.
Und die Gewissheit, in diesem Moment einen flüchtigen Gedanken in einen reellen Plan verwandelt zu haben, der seine Existenz wenn nicht verändern, so doch sehr beeinflussen würde, erfüllte ihn mit Stolz.
Es
Weitere Kostenlose Bücher