Nachtprinzessin
sie sich nicht von der Stelle, weil sie einfach nicht wusste, was sie mit diesem Abend anfangen sollte.
Evi. Sie würde Evi anrufen. Sie hatte einen positiven Blick auf die Welt und war so unbekümmert, dass man die eigenen Sorgen in ihrer Gegenwart leicht ein paar Stunden vergessen konnte.
Thilda ging die wenigen Schritte bis zu ihrem Auto und fuhr nach Hause. Es blieb ihr ja gar nichts anderes übrig, und sie wusste ganz genau, dass sie bald gar nichts mehr tun und in eine dumpfe Lethargie fallen würde, wenn es ihr nicht gelang, Evi jetzt so schnell wie möglich herbeizuzaubern.
Aus irgendeinem Grund zog sie heute Abend die Schuhe nicht aus, als sie in ihre Wohnung kam, sondern stolzierte auf hohen Absätzen bis ins Wohnzimmer. Vielleicht weil sie ohne Schuhe nicht mehr die Energie gefunden hätte, noch einmal wegzugehen. Sie ging zum Barschrank und goss sich einen Martini ein, den sie lauwarm trank. Das war ihr Feierabendritual und hatte für sie absolut nichts mit Alkohol zu tun.
Zehn Minuten später war sie überaus erleichtert, als Evi sich sofort am Telefon meldete.
»Süße! Geht’s dir gut?«
»So li-la-leidlich. Heute so, morgen so. Die Frage könnte ich dir jeden Tag anders beantworten. Und dir?«
»Bestens! Alles prima.«
»Evi, hast du Zeit? Ich meine, nicht erst morgen oder nächste Woche, sondern heute Abend. Mir fällt gerade die Decke auf den Kopf.«
Evi überlegte einen Moment.
»Okay. Ich komme zu dir. So in ’ner Dreiviertelstunde, ich muss hier noch was zu Ende machen.«
»Wunderbar. Ich warte auf dich. Hast du Hunger?«
»Hunger habe ich immer, aber ich esse nichts. Bin auf Diät. Vielleicht hast du ’ne Flasche Sekt im Haus? Das reicht schon.« Sie kicherte. »Bis dann.«
Evi war die einzige Frau, die sie kannte, die man nachts um drei anrufen konnte und die dann eine Viertelstunde später mit zerzausten Haaren, einer Packung Eier, einer Flasche Sekt und einem Kanten Brot vor der Tür stand. Oder die einen völlig verschlafen in die Arme nahm und »Komm rein, Süße« murmelte.
Und genau das war passiert, 1998, drei Tage vor Ostern.
»Du siehst aus, als wenn vor einer halben Stunde die Welt untergegangen wäre«, gähnte Evi, als Thilda morgens um halb vier vor der Tür stand. Sie war leichenblass und hatte tiefe dunkle Augenringe. »Komm rein, Süße. Brauchst du Alkohol oder Kaffee?«
»Beides wahrscheinlich.«
»Okay.« Evi schlurfte in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine an.
Dann warf sie ein Stück Käse, ein Messer und ein Päckchen Tempotaschentücher auf den Tisch und öffnete eine Flasche Sekt.
»Jetzt heul dich erst mal in Ruhe aus, und dann erzähl mir, was passiert ist.«
Thilda weinte nicht, aber sie brauchte lange, bevor sie anfing zu reden: »Matthias hat mich heute verlassen.« Ihre eigene Stimme dröhnte dumpf und wattig in ihrem Kopf. »Er will, dass Alex und ich ausziehen, weil er sich in einen Mann verliebt hat.« Thilda wunderte sich, wie schnell all das ausgesprochen war, was den Scherbenhaufen ihres Lebens ausmachte. Sie hatte keine zehn Sekunden dafür gebraucht, und doch war Evi bereits vollständig im Bilde.
»Boooccch«, stöhnte Evi als einzigen Kommentar. Dann ging sie zu Thilda und strich ihr übers Haar. Thilda drehte sich um, und Evi nahm die Freundin in den Arm. Minutenlang standen die beiden eng umschlungen da und sagten kein Wort.
Thilda saugte Evis Körperwärme und den schwachen, schon fast verflogenen Duft von Chanel No. 5 auf, ein Parfum, dem Evi treu war, seit sie sie kannte. Sie hatte nie etwas anderes ausprobiert, und der Geruch hatte für Thilda fast etwas Heimatliches. Eine Welle der Zärtlichkeit durchflutete sie, und in diesem Moment wurde ihr klar, dass es das war, was sie bei Matthias am meisten vermisst hatte. Er war der Letzte, der Gefühle für andere Menschen zeigen konnte, falls er überhaupt welche hatte.
»Du bist eine tolle Frau, aber ich liebe dich nicht«, hatte Matthias gesagt, als er sich am Abend direkt nach der Tagesschau völlig überraschend in der Küche zu ihr setzte. »Sorry, Thilda, aber wahrscheinlich hab ich dich nie geliebt, und ich denke, das weißt du auch. Das hast du gespürt. Es gab ja noch nicht mal Sex zwischen uns, aber es lag nicht an dir, es lag an mir. Das hab ich erst in letzter Zeit begriffen. Und darum mache ich das Theater auch nicht mehr länger mit. Mir ist egal, was unsere Familien sagen, sollen sie sich das Maul zerreißen, das halte ich schon aus. Mir ging es noch nie so
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