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Nachtprinzessin

Nachtprinzessin

Titel: Nachtprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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wochenlang, um die Erinnerung zu verdrängen, und selbst bei einem flüchtigen Gedanken daran kam ihm noch Monate später das Würgen. Seit dieser Zeit vermied er jegliche Konfrontation. Und so war ihm klar, dass es hier ähnlich ausgehen würde, wenn er den beiden jetzt ein Getränk bestellte, sie in ein Gespräch verwickelte und den Jüngeren zu tief und zu oft ansehen würde. Das konnte er nicht riskieren.
    Also bezahlte er, ließ einen erheblichen Teil seines Weines zurück und verließ das Lokal. Allerdings wagte er es, sich in der Tür noch einmal umzudrehen und den vollen Lippen zuzuzwinkern. Er sollte wissen, dass er Gefallen an ihm gefunden hatte.
    Und während es in Siena dunkel wurde und sich die Straßenbeleuchtung einschaltete, kam die Gelassenheit zurück. In einem Alimentari-Laden, der gerade schließen wollte, kaufte er sich noch zwei Flaschen Wasser und eine Schachtel Konfekt und ging dann zurück ins Hotel.
    Er wusste nichts mit sich anzufangen. Die Einsamkeit war völlig unerwartet gekommen und verstörte ihn zutiefst. Er lag auf dem Bett, trank Wasser und bereute es, keinen Wein gekauft zu haben. Mama, dachte er, wie gern würde ich dich jetzt anrufen und dir eine Gute Nacht wünschen, aber du hörst mich ja nicht mehr. Was bin ich denn ohne dich? Wie soll ich ohne die Gewissheit leben, dass du da bist und auf mich wartest? Du hast meinem Leben immer einen Sinn, einen Inhalt und Sicherheit gegeben, ohne dich bin ich wie ein armseliges Stück Holz, das irgendwo im unendlichen Ozean treibt! Ein Spielball der Wellen, die seine Richtung bestimmen. Mama, bitte! Du darfst mich nicht verlassen!
    Ihm kamen die Tränen, und als das schlechte Gewissen, dass er sich so weit von ihr entfernt hatte, übermächtig wurde, steckte er sich ein Stückchen Konfekt in den Mund.
    Endlich verblasste das Bild seiner Mutter, und die Erinnerung an den Jüngling in der Trattoria kehrte zurück. Und er stellte sich vor, er würde das Konfekt zwischen seine Lippen stopfen, bis ihm das dickpampige Nougat aus den Mundwinkeln quoll und seine Augen bettelten, er solle aufhören. Sein Körper läge in der Wanne. Ab und zu würde er ihn ins Wasser ziehen, um sein beschmiertes Schokoladengesicht zu waschen. Und sein dünnes Haar schwebte unter Wasser wie zarte Quallenfäden, die im Ozean tanzten. Sein Körper zuckte, strampelte und kämpfte, bäumte sich auf und sträubte sich, versuchte sich abzustoßen, um an die Oberfläche zu kommen, glitschte aber am Wannenrand immer wieder zurück in die Tiefe, die gar keine Tiefe war. Wie ein Fisch an der Angel, wie ein Aal, der keinen Platz im Einmachglas hatte, wie ein Folteropfer, dem man den Sauerstoff entzog. In seiner Fantasie ergötzte er sich am Todeskampf des Fremden, seine Hand fuhr unter die Bettdecke, er stöhnte wohlig und konnte sich nicht sattsehen an den Bildern in seinem Kopf. Wünschte, sie würden niemals enden.

25
    25
    Berlin, Juli 2009
    Thilda trat auf die Straße. Es nieselte leicht, aber die Luft war warm. Auf ihrer Haut bildete sich ein milder, feuchter Film, was sie als angenehm empfand. Sie verschloss die dreifach gesicherte Ladentür ihrer Boutique und sah sich um. Nervös drehte sie den Schlüssel um ihren rechten Zeigefinger, runzelte die Stirn, streckte sich und versuchte die Straße zu überblicken, um den Passanten vorzuspielen, sie warte auf jemanden. Warum sie dieses Theater machte, wusste sie nicht, aber in Momenten wie diesen glaubte sie, allmählich sonderbar zu werden. Oder es lag an ihrer Unsicherheit, die mit den Jahren immer mehr zunahm.
    Es war jetzt kurz nach neunzehn Uhr. Eigentlich machte sie um achtzehn Uhr Feierabend, aber heute war noch neue Ware aufzuhängen und einzusortieren gewesen, was mehr Zeit in Anspruch genommen hatte als üblich. Sie war einfach nicht bei der Sache. Alex ging nicht ans Telefon. Dreimal hatte sie versucht, ihn zu erreichen, aber ohne Erfolg. Sie konnte sich das nicht erklären. In seinem Zustand machte er sicher keine großen Ausflüge, und um diese Zeit war er gewöhnlich wach, da er normalerweise bis fünfzehn Uhr schlief und sich dann so langsam in den Tag trudeln ließ. Sie spürte eine immer stärker werdende Unruhe, weil er nicht abhob und auch sein Handy ausgeschaltet hatte, und sie hoffte, dass er nicht doch zur Arbeit gegangen war. Denn zuzutrauen war es ihm.
    Die Stadt roch muffig. Wegen der hohen Luftfeuchtigkeit hatte sie den Eindruck, dass der Dreck der Straße in ihrer Lunge klebte. Und dennoch bewegte

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