Nachtprinzessin
shoppen, aber nicht in die Schule gehen, und verließ die Küche. Mit dem rechten Hacken schmiss sie die Tür zu.
»Tschüss!«, rief Susanne resigniert, aber von Melanie kam keine Antwort.
Großartig, dachte Susanne. Gratulation. Zwei Sätze, und du hast es mal wieder versemmelt. Sie konnte aber auch machen, was sie wollte, ihre Tochter war immer sauer auf sie. Wahrscheinlich war das zwischen vierzehn und achtzehn Gesetz.
Ein paar Sekunden später kam Melanie noch einmal zurück. »Ich gehe übrigens heute nach der Schule zu Marlis. Mathe üben. Und dann penne ich auch gleich da.«
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Sie wartete den Kommentar ihrer Mutter gar nicht erst ab, sondern drehte sich um und ging. Diesmal endgültig.
Susanne seufzte und trank den lauwarmen Kaffee aus. Währenddessen sah sie aus dem Fenster. Melanie überquerte gerade die Straße. Sie ging schnell, aber dennoch aufrecht und gerade. Ihr Rock war etwas zu kurz, ihre Schuhe ein bisschen zu hoch und ihr Pullover wesentlich zu eng. So in unmittelbarer Nähe am Küchentisch war ihr das gar nicht aufgefallen, aber jetzt, aus der Entfernung, sah sie es ganz deutlich.
Melanie war dabei, ihr zu entgleiten. Im Leben ihrer Tochter kam ihre Mutter nicht mehr vor.
Es tat weh, dies zu begreifen, aber Susanne wollte den Schmerz nicht zulassen. Sie wollte sich auch jetzt keine Sorgen machen, sondern einfach nur zwei Stunden schlafen, bevor sie wieder ins Präsidium ging und sich mit dem neuen Mordfall beschäftigte.
Seit fünf Jahren war sie alleinerziehende Mutter. Ihre Beförderung zur Hauptkommissarin und die Ansage ihres Ex, dass er sie verlassen werde, waren fast gleichzeitig passiert. Die Tage waren davon geprägt, dass sie nicht wusste, ob sie zuerst jubeln oder kotzen sollte. Und vielleicht hatte es ja auch an ihrem beruflichen Erfolg gelegen, dass Sven schließlich eine neue Frau kennengelernt hatte und gegangen war. Es war generell nicht einfach, mit einer Polizistin zusammenzuleben, die keine geregelten Arbeitszeiten kannte, sondern auch Abend- und Nachtschichten einschieben musste und so manches Wochenende im Büro verbrachte.
Und jetzt war Melanie dabei, auf der Strecke zu bleiben.
Verflucht, dachte sie, als sie sich todmüde auf Strümpfen den Flur entlangschleppte. In ihrem Zimmer ließ sie sich aufs Bett fallen und schlief augenblicklich ein.
Bereits eine Stunde später war sie wieder wach. Fluchend stand sie auf und stellte sich unter die heiße Dusche. Das war für sie Entspannung pur, und sie konnte am besten nachdenken, wenn das warme Wasser über ihren Körper lief.
Susanne wusste ganz genau, dass sie wenig Chancen hatte, einen Mörder zu überführen, der keine private, sondern nur eine sexuelle Motivation hatte und sich seine Opfer wahllos suchte beziehungsweise ihnen zufällig begegnete. Wenn er ein bisher unbeschriebenes Blatt war, in keiner Polizeidatei oder -statistik auftauchte, keinen gravierenden Fehler machte und seinen Personalausweis nicht am Tatort liegen ließ, war er kaum zu fassen.
Aber eine Möglichkeit gab es. Der Seidenschal, den sie bei dem zweiten Opfer gefunden hatten, sprach Bände. Wahrscheinlich war er ein Gentleman, einer, der darauf Wert legte, stilvoll zu morden. Aufgrund seines kultivierten Auftretens fassten die Opfer sofort Vertrauen und folgten ihm bereitwillig. Susanne glaubte, dass er gebildet war und zumindest aus einem gutbürgerlichen, wenn nicht intellektuellen Hause kam. Vielleicht war er extrem geltungssüchtig. Ein Narzisst.
Natürlich waren dies alles Vermutungen, aber allmählich reifte in ihr eine Idee. Sie würde versuchen, ihn aus der Reserve zu locken, ihn bei seiner Eitelkeit zu packen.
Sie stellte die Dusche ab und trocknete sich ab. Ja, das war nicht schlecht. In ein paar Tagen würde sie eine Pressekonferenz einberufen und Auskünfte über vermeintliche Ermittlungsergebnisse geben. Und dabei würde sie lügen, dass sich die Balken bogen.
24
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Siena, Juli 2009
Die heiße Nachmittagssonne drückte auf das Land, das unreife Getreide zitterte in der Hitze.
Matthias stand in einer Parkbucht auf dem Gipfel eines Hügels und blickte in die Weite der Crete. In der flimmernden Luft sah er einen grauen Streifen am Horizont, vermutlich die Silhouette Sienas. Er hatte sein Ziel fast erreicht.
Jedes Mal, wenn er in der Gegend war, hielt er an dieser Stelle an, und seltsamerweise parkte er hier immer allein. Noch nie war ein anderer Autofahrer gleichzeitig mit ihm auf
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