Nachtprinzessin
die Idee gekommen, den sagenhaften Ausblick an diesem Ort zu genießen, auch nicht, wenn die Toskana mit Touristen überfüllt war. Nur wenige hatten offensichtlich die Muße, ihr Besichtigungsprogramm, bei dem sie von einer Kirche zur andern, von Museum zu Museum, von Kloster zu Kloster und von einer Stadt zur nächsten hetzten, an einem stillen Platz wie diesem zu unterbrechen und die karge Schönheit der Landschaft zu genießen.
Matthias atmete tief durch. Er fühlte sich in der Toskana schon fast wie zu Hause, es war einfach herrlich, wieder angekommen zu sein. Hier konnte er alles hinter sich lassen und vergessen, was ihn in Berlin bedrückte, die Erholung begann jetzt in diesem Moment. Die Welt war hier oben ganz nah, und der so leicht dahingesagte Satz: »Ich könnte die ganze Welt umarmen«, schien beinah möglich zu sein.
Er hatte das Gefühl, den frischen herben Geruch von Limonen wahrzunehmen, obwohl weit und breit kein einziger Zitronenbaum zu sehen war. Durch die Luft zog der Staub der Straße, und seine Haut roch schon jetzt nach wenigen Minuten im Freien nach Sommer. Dieser eigenartige unbeschreibliche Duft, den die Sonne aus dem Körper zog. Am stärksten, wenn man zum ersten Mal im Jahr keine Jacke trug.
Einen glücklicheren Moment konnte er sich nicht vorstellen, und er versuchte ihn festzuhalten, indem er sich auf eine Bank setzte und sich bemühte, an nichts zu denken.
Für seine Verhältnisse war es früh, als der Wecker gestern Morgen um neun Uhr geklingelt hatte. Wie immer blieb er noch eine Weile ruhig liegen, und langsam kam die Erinnerung an die vergangene Nacht. Sein Herz klopfte, als er an den winzigen Strand des verschwiegenen Sees und den kleinen Stricher dachte.
Es war eine unbeschreiblich friedliche Nacht gewesen. Sie lagen im Sand, sahen in die Sterne und genossen die romantische Atmosphäre.
Der Löwe, der die Antilope jagt, achtet nicht auf den herrlichen glutroten Sonnenuntergang hinter den Pinien der Savanne, dachte Matthias. Ich schon. Das unterscheidet den Menschen vom Tier. Auch während der Jagd kann ich die Schönheit der Welt begreifen. Das ist fantastisch, das ist Perfektion.
Offensichtlich war der Junge noch nicht lange in diesem Gewerbe tätig, er erschien Matthias erfrischend unverdorben und unprofessionell. Denn er war nicht fordernd und geschäftsmäßig, sondern zärtlich und anschmiegsam. Als wäre das Zusammensein mit einem neuen Freier ein großes Abenteuer. Matthias war wie berauscht von seiner vollkommenen Hingabe und seinem Lächeln.
Als er ihn an den Baum gebunden hatte, sah ihm der Junge in die Augen, und Matthias glaubte in seinem Blick fast so etwas wie Liebe zu entdecken. Schließlich flüsterte er, als Matthias ihm den Schal um den Hals legte: »Du bist mein Prinz.«
Nein, dachte Matthias, du irrst. Ich bin nicht dein Prinz, sondern deine Prinzessin.
So hatte ihn Dennis immer genannt. Zwei Jahre lang. Aber Dennis rauchte zu viel, er trank zu viel, er schlief zu lange und wahrscheinlich liebte er zu sehr. Alles, was er tat, übertrieb er, er war wie eine Kerze, die von beiden Seiten brannte. Aber Matthias genoss jeden Tag mit ihm. Gemeinsam brausten sie im offenen Sportwagen durch die Toskana, bestiegen den Himalaja und tauchten in Ägypten. Dennis organisierte alles, Matthias brauchte sich um nichts zu kümmern.
»Lass mich nur machen«, sagte er ständig. »Eine Prinzessin wie dich muss man auf Händen tragen, und ich bin glücklich, wenn ich derjenige sein darf, der dich verwöhnt.«
In Dennis’ Armen vergaß Matthias die Zeit und die Welt. Zum ersten Mal spürte er so etwas wie absolute Geborgenheit. Und zum ersten Mal lieferte er sich einem Menschen vollkommen aus. Er war glücklich. Hatte das Gefühl zu schweben. Dennis war sein Leben. Gegenwart und Zukunft. Und Dennis war der einzige Mensch, zu dem er »Ich liebe dich« gesagt hatte.
Es war mehr als ein Versprechen, es war ein Gelübde.
Und die Angst, Dennis eines Tages zu verlieren, wurde von Tag zu Tag stärker.
Doch es war passiert. Er hatte Dennis verloren und mit ihm die einzige große Liebe seines Lebens. Jemanden wie ihn hatte es nie wieder gegeben, obwohl er nie aufgehört hatte zu suchen.
In Erinnerung an Dennis schrieb er mit einem Stock Prinzessin in den Sand.
Minuten später schloss der Junge die Augen, glitt ab ins Reich seiner Fantasie und seiner Lüste und träumte von seinem Prin zen, der die kühle Seide um seinen Hals immer fester zuzog.
Was wirklich mit ihm
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