Nachtprinzessin
völlig unverständliches Würgen.
Adrianos Blick war kalt und bedrohlicher als der brutale Aktionismus des Ragazzos. Matthias schauderte. Von dem Knaben, in den er sich verliebt hatte, war keine Hilfe zu erwarten. Er war allein. Er würde verlieren.
»Knie dich aufrecht hin!«, befahl der Ragazzo.
Matthias hatte den Befehl nicht verstanden, er konnte sowieso nicht mehr denken.
Der Ragazzo trat ihm in den Rücken, Matthias kniete jetzt vor ihm. Die Todesangst stand ihm in den Augen.
»Hände in den Nacken!«
Wieder wusste Matthias nicht, was er tun sollte, aber da riss ihm der Ragazzo schon die Hände hoch und schob sie ihm hinter den Kopf. »So, mein Freund, und jetzt schieße ich dir eine Kugel in den Kopf. Vielleicht kannst du noch hören, wie dein Hirn hier auf die Steine klatscht.«
Er spürte den Lauf der Pistole an seiner Schläfe.
Mama, dachte er, ich sterbe. Noch vor dir. Diese Primitivlinge pusten mein Leben weg, als wäre es nichts. Weil sie keine Ahnung haben, wer ich bin. Mama, ich liebe dich, verzeih mir.
Und dann spürte er, wie es warm und feucht wurde in seiner Hose. Kot und Urin liefen ihm gleichzeitig die Hosenbeine im Inneren seiner hellen, leicht durchsichtigen Leinenhose hinunter. Er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle, da war nur noch Angst.
Er hatte nicht gewusst, dass ein Mensch so viel Angst haben konnte.
Der Ragazzo drückte ab.
Matthias brach zusammen.
Sekunden später hörte er das schrille, wiehernde Gackern des Jungen, und er verstand nicht, dass er lebte.
Wut erfasste ihn. Wut, die ihn stark machte. Er spürte keinen schmerzenden Kiefer mehr und kein Verlangen nach Wasser.
Was jetzt passierte, war nicht überlegt, es brach aus ihm heraus wie eine Explosion der Gewalt, wie das Meer, das plötzlich den Deich brach.
Matthias spuckte die Münzen aus, packte im gleichen Moment die Beine des Ragazzos und zog sie mit Wucht nach vorn. Der Junge verlor das Gleichgewicht und stürzte, wobei ihm die Pistole aus der Hand fiel.
Mehr im Unterbewusstsein registrierte Matthias das dumpfe, taube Geräusch und wusste, dass sie aus Plastik war, was ihn nur noch wütender machte und ihm noch größere Kräfte verlieh.
Und dann ging alles sehr schnell. Matthias kam auf die Beine, trat dem Ragazzo gegen den Bauch, dieser torkelte rückwärts und schrie. Adriano stürzte hinzu, versuchte seinen Freund zu halten, aber Matthias gab beiden einen heftigen Stoß und hatte Mühe, durch die Wucht nicht auch noch in den Abgrund zu stürzen.
Er sah, wie sie fielen. Einen Moment schien es, als hielten sie sich an den Händen, aber dann schlugen sie an unterschiedlichen Stellen auf.
Der Ragazzo rollte noch zweimal um die eigene Achse, fiel ins Meer und trieb dann hilflos auf den Wellen. Adriano lag – seltsam verrenkt – zwischen den Steinen.
Matthias wartete. Der Ragazzo machte nicht die leiseste Schwimmbewegung. Sein Gesicht hing unbeweglich unter Wasser, Wellen schwappten über ihn und spülten ihn an Land. Und auch Adriano hing unverändert zwischen den Felsen und bewegte sich nicht.
Das Objekt seiner Begierde, seiner Hoffnungen, Wünsche und seiner Sehnsucht war tot.
Matthias stand minutenlang bewegungslos da, bis er begriffen hatte, was geschehen war.
Dann legte er sich bäuchlings auf den heißen Fels. Die Sonne brannte, und er fühlte sich wie ein Stück Fleisch auf dem Grill. Sein Hals kratzte, seine Zunge klebte am Gaumen, er konnte nicht mehr schlucken, hatte keinen Speichel mehr. Die Scheiße in seiner Hose begann zu trocknen und fiel in kleinen Brocken aus dem Hosenbein. Sein Kiefer stand in Flammen, und sein Herz dröhnte in den Ohren.
Noch hatte er nicht begriffen, was geschehen war, und noch hatte er keine Idee, wie er es schaffen sollte, zurück in seine Wohnung zu kommen.
Aber eines war ihm klar: So wie er aussah, durfte er keinem Menschen begegnen. Er musste warten, bis es Nacht war, und dann versuchen, sich im Dunkeln an den Felsen entlangzuhangeln.
Es ging um das nackte Überleben.
Zweiter Teil
ZWEITER TEIL
MÄNNERFANTASIEN
34
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Ambra, Juli 2009
Donato Neri fragte sich, was er verbrochen hatte und warum das Schicksal ihn damit bestrafte, als kleiner Dorfpolizist in Ambra sein Leben verbringen zu müssen.
Er trat aus der Carabinieri-Station auf die Straße, und die Hitze traf ihn, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. Am Außenthermometer direkt neben seinem Bürofenster, das im Schatten lag, hatte er zweiundvierzig Grad Celsius abgelesen, und er wusste,
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