Nachtprinzessin
Leichte Panik stieg in ihm auf, und er suchte jeden Zentimeter seines Zimmers ab. Nichts. Der Schal war verschwunden. Wahrscheinlich hatte er ihn verloren, und wenn er Glück hatte, war er wie ein letzter Gruß von den Klippen geweht und im Meer versunken.
Und die goldene Klammer, die der Ragazzo ins Gebüsch geworfen hatte, war auch weg. Er hatte sie nicht gesucht, hatte gar nicht mehr daran gedacht.
Angewidert zog er seine Hose aus und stopfte sie zusammen mit Unterwäsche, Hemd und Schuhen in zwei Müllsäcke, die er erst einmal unter der Spüle hinter dem Mülleimer verstaute. Dann duschte er ausgiebig, wusch sich die Haare, cremte sich sorgfältig ein und behandelte seine Kratzer und Schürfwunden mit einem nicht brennenden Jodersatz, den er auf Reisen immer dabeihatte. Sein Gesicht war noch geschwollen, aber er glaubte nicht mehr daran, dass der Kiefer gebrochen war, da er ihn langsam bewegen konnte.
Matthias zog sich frische Kleidung an und fühlte sich fast wie neugeboren. Das restliche Wasser nahm er mit auf den Balkon. Dort setzte er sich und beobachtete das Leben und Treiben im Hafen. Er wusste natürlich, dass es Unsinn war, aber dennoch konnte er das Restaurant nicht aus den Augen lassen und hoffte, Adriano würde einfach auftauchen. Einfach so, als hätte es den gestrigen Tag nicht gegeben.
Ganz langsam, bruchstückhaft kam die Erinnerung wieder.
Er brachte es nicht fertig, noch einmal nach den beiden Leichen zu sehen, wollte nichts mehr damit zu tun haben. Er hatte aus reiner Notwehr gehandelt. Nein, eigentlich hatte er noch nicht mal gehandelt, sondern in Todesangst einfach nur reagiert. Die beiden hatten ihre gerechte Strafe bekommen, niemand konnte ihm einen Vorwurf machen.
Das sagte er sich immer wieder. Hundertmal. Tausendmal, während er langsam weiterkroch. Bloß weg von der Stelle, wo die so wunderschön geplante Begegnung so ekelerregend geendet hatte.
Kurz vor dem verlassenen Leuchtturm fand er einen Felsvorsprung, der mit Gestrüpp bewachsen war und wenigstens ein bisschen Schatten spendete. Völlig erschöpft setzte er sich und streckte die Beine aus. Alles tat ihm weh. Jeder Millimeter seines Körpers schmerzte, und er wusste nicht, wie er den ganzen Tag in der sengenden Hitze ohne Wasser überstehen sollte.
Er musste nachdenken. Musste überlegen, was zu tun war, was in dieser Situation das Beste war, wie er sich retten konnte. Denken, solange er überhaupt noch denken konnte.
Kurz vor dem Parkplatz, wo er sein Auto abgestellt hatte, liefen verschiedene Wege zusammen. Man konnte von dort an der Ost- oder Westküste der Insel entlanglaufen, um den südlichsten Zipfel zu erreichen, oder sich auf den Höhenzügen durch die Wildnis schlagen. Seines Wissens befand er sich an der Westküste. Aber eines war klar. Niemals würde er seinen Wagen erreichen, ohne anderen Wanderern oder Spaziergängern zu begegnen. Und auch wenn ihm das gelingen sollte und er nach Giglio Porto zurückfahren konnte – dort musste er meilenweit entfernt von seinem Appartement parken und in seinem Aufzug durch den gesamten Ort und Hafen marschieren. Das durfte er niemals riskieren. Wasser oder nicht, er musste ausharren, bis es Nacht war und sich kaum noch jemand auf Giglios Straßen aufhielt.
Was für eine schreckliche Vorstellung.
Stundenlang dämmerte Matthias vor sich hin, versuchte sich damit zu trösten, dass man auch in der Wüste sicher drei Tage ohne Wasser ausharren konnte, bevor man starb. Er kroch dem Schatten hinterher und schlief streckenweise ein. Nur wenn die Sonne ihn wieder traf, wachte er auf und veränderte seine Position.
Bei Sonnenuntergang machte er sich auf den Weg. Schlich davon und hangelte sich zentimeterweise über den Abgrund. Nur am Anfang waren die schwierigen und gefährlichen Passagen, da konnte er sich noch im letzten Tageslicht orientieren. Als der Mond schien, erreichte er sein Auto.
Er konnte kaum fahren. Der Gedanke, dass er jetzt mit seiner verdreckten Hose, die er in Todesangst beschmutzt hatte, auf dem kostbaren Ledersitz seines Porsches saß, war ihm unerträglich. Er ekelte sich vor sich selbst, und seine Beine zitterten so, dass er Schwierigkeiten hatte, die Pedale zu treten. Im Schritttempo fuhr er an der Steilküste entlang, das Einzige, was ihn beruhigte, war der Gedanke, dass um diese Zeit wahrscheinlich niemand in Richtung Meer fahren und er zum Glück niemandem mehr begegnen würde.
Problemlos erreichte er Giglio Castello. Auf einem Parkplatz am
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