Nachtprinzessin
uraltem Müll lagen in der Gegend herum. Die weiße Farbe des Turms war großflächig abgeplatzt, die Fenster, die nicht zugenagelt waren, waren vergittert und erinnerten an eine Kaserne. Die wenigen Türen im Zaun waren mit schweren, verrosteten Vorhängeschlössern gesichert. Dieses Grundstück hatte schon ewig niemand mehr betreten.
Außerhalb des Zauns stand ein winziger Schuppen. Matthias ging hinein und pinkelte in eine Ecke. Er schämte sich, traute sich nicht, im Freien zu pinkeln, fürchtete, von Adriano beobachtet zu werden. Aber Adriano interessierte sich gar nicht dafür, ging direkt vor dem Leuchtturm auf einem schmalen Pfad auf und ab und telefonierte.
Zum Teufel mit dem Ragazzo, dachte Matthias.
»Wie alt bist du?«, fragte Matthias, als Adriano aufgehört hatte zu telefonieren.
Adriano grinste. »Rate.«
»Neunzehn«, tippte Matthias. Eigentlich erschien ihm Adriano jünger, aber er wusste, dass junge Männer gern älter erscheinen wollten, als sie aussahen, daher wollte er ihm die Freude machen.
»Falsch – du hast keinen guten Blick«, meinte er und sah stolz aufs Meer. »Ich bin zweiundzwanzig.«
Matthias glaubte ihm kein Wort, aber es war ihm auch egal. Er fuhr Adriano mit zwei Fingern zart über den Arm.
»Du bist wunderschön«, flüsterte er. »Und deine Haut ist so weich wie die eines Babys. Vielleicht hab ich mich deswegen verschätzt?«
Adriano kicherte, entzog ihm den Arm und hüpfte leichtfüßig über einen Felsen.
»Komm. Es ist noch ziemlich weit.«
Sie gingen weiter. Adriano redete nicht viel. Ein paar belanglose Sätze über die Insel, dann schwieg er wieder. Als Fremdenführer war er untauglich. Aber Matthias war es gleich. Was interessierte ihn die Insel? Inseln gab es viele, Adriano war einmalig.
Schließlich bemerkte Matthias eine Veränderung bei Adriano. Von einer Minute auf die andere wirkte er mürrisch, abweisend, unwillig. Sagte gar nichts und lächelte auch nicht mehr, was Matthias verunsicherte. Was war los? Was hatte er falsch gemacht? In Gedanken ging er noch einmal die wenigen Sätze durch, die er gesagt hatte, aber sie waren völlig unverfänglich gewesen. Oder hatte er ihm die kurze, flüchtige Berührung übel genommen?
Sie stiegen stetig bergauf, der Pfad wurde immer schmaler, an manchen Stellen war er nur noch so breit wie ein Fuß, und sie mussten sich um Felsen hangeln. Matthias wurde schwindlig, wenn er hinuntersah. Tief unter ihnen brodelte das Meer, Wellen brachen sich schäumend an spitzen Felsen, die wie überdimensionierte Schwerter in die Höhe ragten und offensichtlich nur darauf warteten, ein fallendes Opfer aufzuspießen.
Der Wassermangel machte Matthias zu schaffen. Warum hatte er nur auf seine Kleidung geachtet, die perfekt sitzende Leinenhose, den Seidenschal und das völlig überteuerte Designer-Hemd? Aber keine Sekunde hatte er daran gedacht, dass eine Flasche Wasser an einem heißen Tag in den Bergen lebenswichtig war.
»Ich kann nicht mehr«, sagte Matthias und blieb schwer atmend stehen. Sein Hemd war durchgeweicht und zeigte riesige Schwitzflecken, seine Hose klebte im Schritt. »Ich brauche dringend was zu trinken, so stehe ich das nicht durch.«
»Stell dich nicht so an!«, fauchte Adriano. »Du hättest dir ja was mitnehmen können, wenn du so empfindlich bist.«
Matthias erschrak über diese so offensichtliche Feindseligkeit und wagte es nicht, weiterzureden. Und es schien, als ginge Adriano jetzt noch schneller voran.
Auf einer kleinen Plattform aus Granit, einem riesigen glatt geschliffenen Felsen, hielt er an und stemmte die Fäuste in die Hüften.
»So, mein Lieber«, bellte Adriano, und seine Stimme klang gar nicht mehr so glockenhell. »Jetzt wollen wir uns mal unterhalten. Hier sind wir unter uns, und keiner hört mit. Du Schlaffsack kannst ja sowieso nicht mehr laufen, also können wir unseren netten Spaziergang hier auch beenden. Aber vorher gibst du mir erst mal deine Knete. Denn du glaubst doch wohl nicht, dass ich dir alten Tunte meinen Arsch hinhalte, ohne dass ich Geld kriege. Na los, her damit. Und zwar alles!«
Matthias war so entsetzt, dass ihm die Luft wegblieb. Das war nicht sein Stil. Er war die Prinzessin und kein Schlaffsack und erst recht keine alte Tunte. Und in diesem Moment, in dem alle seine Illusionen und Träume zerplatzten, kam die Angst. Er wusste einfach nicht, was er jetzt tun sollte, aber alles in ihm sträubte sich, diesem Kriminellen sein ganzes Geld zu überlassen. Er hatte
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