Nachtprinzessin
so sinnlos wie ein Konzertbesuch für einen Tauben. Aber sie sagte nichts. Wenn Neri beschlossen hatte, etwas zu tun, war das ein seltener Anfall von Tatendrang und Energie, den man in keinem Fall stören oder behindern sollte.
Gianni bewohnte im ersten Stock ein Fünfzehn-Quadratmeter-Zimmer mit einem schönen Blick über Robertos Wiese bis hinauf nach Duddova.
Neri klopfte, aber es kam keine Reaktion. Also öffnete er die Tür.
»Spinnst du?« Gianni blinzelte verschlafen aus zugequollenen Augen, seine Haare standen wüst vom Kopf ab, und sein Gesicht war durch die Hitze unter der Decke hochrot. »Hab ich irgendwas von herein oder so gesagt? Ich penne noch!«
»In fünf Minuten bist du unten in der Küche, oder es knallt. Ist das klar?«
»Wieso das denn? Hat Alfonso wieder irgendwas gesagt, oder warum musst du deine schlechte Laune an mir auslassen?«
»Ich muss mit dir reden.« Neri wartete keine weitere Reaktion ab und verließ das Zimmer.
Gianni zog sich die Decke übers Gesicht und fluchte. Aber dann quälte er sich doch aus dem Bett und schlurfte ins Bad.
Neri und Gabriella waren mit dem Essen fast fertig, als Gianni erschien und sich ein Bier aus dem Kühlschrank nahm.
»Und?«, sagte er. »Was gibt’s denn so ungemein Wichtiges?« Die Büchse knallte beim Öffnen und schäumte provozierend.
»Es geht so nicht weiter, mein lieber Freund«, begann Neri. »Du bist mit der Schule fertig. Schön. Und nun? Hast du dir überlegt, was du tun willst? Oder willst du dein Leben im Bett verbringen?«
»Am liebsten ja«, grinste Gianni.
»Dann tu das, aber nicht hier in meinem Haus!«
»Du schmeißt ihn raus? Was soll denn das jetzt, Neri?« Gabriella war fassungslos. »Mein Gott, es ist doch völlig normal, dass man nach der Schule nicht sofort weiß, was man machen soll. Ich finde diese Rumhängerei und das Schlafen bis in die Puppen auch nicht in Ordnung, aber du kannst ihn doch nicht gleich rausschmeißen!«
Neri reagierte nicht darauf und konzentrierte sich weiter auf Gianni. »Such dir eine Arbeit, eine Ausbildung oder fang an zu studieren. Mir egal. Aber tu was!«
»Ich könnte ja zur Polizei gehen, aber ich hab natürlich wenig Lust, deinen Idiotenjob hier zu beerben. Kannst du nicht in Rom ein gutes Wort für mich einlegen, oder knallen die immer noch den Hörer auf die Gabel, wenn sie den Namen Neri hören?« Gianni sagte das, um seinen Vater noch mehr zu reizen, und genau so kam es auch bei Neri an.
Er stand auf und verließ türenschmeißend die Küche.
»Das war ja nun nicht nötig«, fauchte Gabriella. »Kann man sich denn in dieser Familie nie in Ruhe und Frieden unterhalten?«
»Offensichtlich nicht«, meinte Gianni und ging ebenfalls.
Gabriella stellte das Geschirr in die Spülmaschine.
Sie wusste nicht, was sie machen sollte, sie wusste nur, dass das so kein Leben mehr war.
35
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Giglio, Juli 2009
Matthias erwachte mit rasenden Kopfschmerzen. Er brauchte eine gute Minute, um zu begreifen, dass er noch lebte.
Die Fensterläden waren geschlossen, im Zimmer war es stockdunkel. Seine linke Gesichtshälfte schmerzte, er versuchte zu schlucken, aber sein Mund war vollkommen ausgetrocknet. Er musste dringend etwas trinken.
Langsam und vorsichtig setzte er sich auf, darauf gefasst, dass die Kopfschmerzen sich verschlimmern würden, aber nachdem er zwei Minuten aufrecht gesessen hatte, wurde der Schmerz schwächer. Er schaltete die Nachttischlampe an.
Jetzt erst bemerkte er, dass er seine stinkende Hose noch anhatte. Sie war verdreckt, zerrissen und hatte blutige Flecken an den Knien. Auch das Bett war durch die Hose eingesaut. Sein Hemd sah nicht besser aus und lag zerknüllt am Boden. Noch nie in seinem Leben war er in einem derartigen Zustand ins Bett gegangen, und er konnte sich auch nicht mehr daran erinnern, wie er eingeschlafen war.
Sich vorsichtig bewegend, um zu sehen, welche Knochen ihm wehtaten und wo er weitere Verletzungen hatte, ging er zum Fenster und öffnete die Läden. Die Hitze waberte ins Zimmer.
Im Hafen glitzerte das Meer, die Boote dümpelten im Sonnenlicht, die Bars waren mäßig besetzt. Friedliche Sommerstimmung, wie man sie sich schöner nicht vorstellen konnte.
Matthias sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwei. In der Küchenecke standen zwei Flaschen seines besonderen Wassers, er trank eine davon fast ganz leer. Danach fühlte er sich wesentlich besser.
Der Schal! Sein Seidenschal. Er lag nirgends herum, nicht auf dem Boden, auch nicht unter dem Hemd.
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