Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtruf (German Edition)

Nachtruf (German Edition)

Titel: Nachtruf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leslie Tentler
Vom Netzwerk:
zwischen Bruder und Schwester. Sie hatten sich dieselbe Gebärmutter geteilt.
    „Du und Trevor hattet also Streit?“
    Rain seufzte. „Dazu wäre es nötig gewesen, dass Trevor bei mir geblieben wäre. Im Moment scheint er die Absicht zu haben, möglichst viel Distanz zwischen uns zu bringen.“
    „Ich glaube, er empfindet sehr viel für dich.“
    Das dachte ich auch. Doch Rain erwiderte nichts. Stattdessen starrte sie in die klare Flüssigkeit in ihrem Glas. Wahrscheinlich hätte auch die doppelte Menge Wodka nicht ausgereicht, um die Erinnerung an das Misstrauen in seinen Augen auszulöschen.
    „Wie viel weißt du eigentlich über meinen Bruder und seine Kindheit, Rain?“
    „Ich habe Trevor … nach der Narbe an seinem Kinn gefragt“, sagte Rain zögerlich. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass es auchAnnabelles Vergangenheit war, über die sie gerade sprachen. „Er erzählte mir, wie er dazu gekommen ist. Alex hat ebenfalls einige Sachen erwähnt, die er von Brian gehört hat.“
    Annabelle stand auf, trat zu dem dunklen Bürofenster und starrte hinaus. „Du bist Psychologin, stimmt’s?“
    „Ja.“
    „Dann ist dir auch bekannt, dass in Missbrauchsfamilien oftmals das älteste Kind die Prügel auf sich zieht, um seine jüngeren Geschwister zu beschützen?“ Sie drehte sich zu Rain um. Als Rain langsam nickte, fuhr sie fort. „Trevor hat immer versucht, uns zu beschützen. Vor allem Brian, der ein Talent hatte, unseren Vater wütend zu machen. Wenn Daddy mit schlechter Laune von seiner Schicht nach Hause kam, brauchte er jemanden, an dem er sich abreagieren konnte. Trevor bekam schlimme Schläge ab.“
    „Wo war eure Mutter?“
    „Sie trank die meiste Zeit.“ Annabelle stellte ihr Glas auf den Schreibtisch und strich mit der Fingerspitze über den Rand. „Sie liebte uns, aber sie war keine starke Frau. Es war ihre Art, mit den Dingen fertigzuwerden. Sie hatte Angst vor ihrem Mann, und das aus gutem Grund. Damals waren die Gerichte Opfern häuslicher Gewalt gegenüber lange nicht so mitfühlend wie heutzutage. Besonders, wenn der Beschuldigte Polizist war. Momma schien sich immer in sich selbst zu verkriechen, wenn Daddy in ihrer Nähe war.“
    Vom Flur her hörte Rain die kleine Haley laut über den Cartoon kichern. Das Lachen des Mädchens bildete einen scharfen Kontrast zu Annabelles Worten, zu der Erzählung über ihre Kindheit.
    „War Trevor der Einzige, den euer Vater schlug?“
    Gedankenverloren rieb Annabelle über die dünne Narbe an ihrem linken Handgelenk. Rain war sie bereits aufgefallen. Als Annabelle die DVD eingelegt hatte, war der Ärmel ihrer Bluse hochgerutscht und hatte den Blick auf die Narbe freigegeben.
    „Als ich dreizehn Jahre alt war, hat mein Vater angefangen,mich sexuell zu missbrauchen.“ Annabelles leise Offenbarung schien im Raum widerzuhallen. Offenbar war der Wodka nicht nur eine Stärkung für Rain, sondern auch für Annabelle. „Trevor wusste nichts davon. Niemand wusste etwas. Ich habe es geheim gehalten, weil ich in unserer Familie nicht noch mehr Probleme verursachen wollte.“
    „Wie lange ging das so?“
    „Fast zwei Jahre … Bis Trevor ihn auf frischer Tat ertappte.“
    Rains Herz zog sich zusammen. Sie wappnete sich innerlich für das, was sie gleich hören würde.
    „Ich war allein zu Hause“, erzählte Annabelle mit angespannter Miene. „Momma begleitete Brian zu einem Arzttermin, und Trevor war beim Footballtraining seiner Schulmannschaft. Ich war gerade in meinem Zimmer und hörte Musik, als ich den schwarz-weißen Streifenwagen auf die Einfahrt biegen sah … Ich wusste, warum er da war, was er wollte. Ich dachte daran, aus dem Fenster zu klettern, wegzurennen vor alldem. Hätte ich das nur getan, dann wäre alles anders gekommen.“
    Rain erhob sich von der Couch und ging zu Annabelle. „Du warst noch ein halbes Kind. Natürlich wusstest du nicht, was du tun solltest.“
    „Er war vorher immer so vorsichtig gewesen.“ Sie mied Rains Blick. „Er hatte mich im Streifenwagen mitgenommen. Wir waren zu den Deichen draußen am Rande der Stadt gefahren, wo es nichts gab außer Möwen und das schlammige Wasser des Flusses. Wo uns niemand sehen konnte.“ Bitterkeit lag in ihrer Stimme. „Doch dieses Mal kam er in mein Zimmer. Und er schloss die Tür nicht ab, denn außer uns war keiner da. Er war betrunken.“
    „Und dann kam Trevor nach Hause“, flüsterte Rain.
    „Das Training war früher zu Ende als sonst. Wir hörten nicht, wie er die Treppe

Weitere Kostenlose Bücher