Nachtruf (German Edition)
hinaufkam. Daddy trug noch seine Uniform. Er zwang mich, ihn …“ Sie brach ab, schloss und öffnete ihre blauen Augen. Sie wirkte so zerbrechlich. „Plötzlich stand Trevor in der Tür.“
Die Wodkaflasche stand auf der Anrichte hinter Alex’ Schreibtisch. Rain nahm Annabelles Glas und füllte es wieder auf, damit sie Zeit hatte, sich zu sammeln. Nachdem Annabelle einen Schluck genommen hatte, stellte Rain die Frage, die ihr auf den Nägeln brannte.
„Annabelle“, drängte sie. „Was geschah dann?“
Stirnrunzelnd schien Annabelle für einen Moment in ihren Erinnerungen versunken zu sein. „Daddy stieß Trevor gegen die Wand. Er schlug und beschimpfte ihn. Dann hielt er ihm seine Dienstwaffe an den Kopf. Er stellte ihn vor die Wahl – den Mund zu halten über das, was er gesehen hatte, oder zu sterben. Trevor blickte ihn nur an und sagte, er solle zur Hölle fahren.“ Eine Träne rollte über Annabelles Wange. „Selbst mit fünfzehn Jahren besaß Trevor einen Mut, der manchmal an Dummheit grenzte.“
Rain spürte, wie ihr Herz raste. Einige Sekunden verstrichen, bevor Annabelle weitersprach.
„Er schlug Trevor mit der Waffe. Und er schlug sehr hart zu.“ Sie blickte zu Boden, als ob sie ihren Bruder immer noch vor sich liegen sah. „Trevor fiel hin, und Daddy schlug ihn wieder. Ich wollte ihn aufhalten, aber ich …“
Annabelle legte eine Hand vor ihren Mund. Rain strich tröstend über ihren Rücken.
„Drei Tage lag Trevor im Koma … an einem Beatmungsgerät. Sie mussten ihn operieren. Er hatte eine Gehirnblutung.“
Rain stellte sich vor, wie Trevor an Schläuchen und Drähten in einem Krankenhausbett lag. Das Unrecht entsetzte sie. „Und dein Vater? Sicherlich ist er für das bestraft worden, was er getan hat.“
„Die offizielle Version lautete, dass Trevor bei einem versuchten Raubüberfall in unserem Haus verletzt worden war. Mein Vater hatte Schlimmeres verhindern können, als er während seiner Pause nach Hause gekommen war. Da mein Vater Polizist war, hat auch niemand näher nachgefragt. Er ging als Held aus dem Ganzen hervor.“ Annabelle sah Rain an. In ihren Augen stand die Schuld, die sie empfand. „Zuerst haben wir meinen Vatergedeckt, weil wir Angst vor dem hatten, was sonst geschehen wäre … was er uns angetan hätte, wenn wir die Wahrheit erzählt hätten.“
„Und was war mit eurer Mutter? Und Brian?“
„Sie kamen gleich danach nach Hause. Daddy zwang Brian, einen Notruf abzusetzen und dem Telefonisten auf keinen Fall die Wahrheit über das zu sagen, was geschehen war. Brian war erst zehn Jahre alt.“ Ihre Stimme drohte zu brechen. „Ich hielt Trevor in meinen Armen, während wir auf den Krankenwagen warteten, doch er wachte einfach nicht auf …“
„Mommy?“ Haley stand in der Tür. Sie starrte zu ihrer Mutter, die sich schnell über das Gesicht wischte.
„Ist schon gut, mein Schatz.“ Annabelle lächelte leicht.
„Ich möchte etwas trinken.“
„Apfelsaft?“ Annabelle ging zu dem Mini-Kühlschrank und holte ein kleines Trinkpäckchen heraus. Sie zog den Strohhalm ab und steckte ihn in das folienversiegelte Loch auf der Oberseite. Dann ging sie in die Knie, reichte ihrer Tochter den Saft und zog sie fest in ihre Arme.
Rain, die danebenstand, bemühte sich unterdessen, das, was sie erfahren hatte, zu verarbeiten. In der Nacht, in der sie und Trevor einander geliebt hatten, hatte er ein wenig über seine schmerzliche Vergangenheit erzählt. Die wahre Dimension hatte er ihr jedoch verschwiegen. Sie hatte sich schon gedacht, dass seine Kindheit nicht allzu schön gewesen war, aber das hätte sie nicht erwartet.
Sobald Haley den Raum verlassen hatte, griff Annabelle den Faden wieder auf. Sie schien entschlossen, ihre Geschichte zu beenden, auch wenn es schmerzhaft für sie war.
„Als Trevor wieder zu Bewusstsein kam, brauchte er Hilfe. Er war sehr schwach. Das Sprechen war verlangsamt, und er hatte Wortfindungsschwierigkeiten. Außerdem litt er an einer retrograden Amnesie – er konnte sich an den Vorfall überhaupt nicht mehr erinnern.“ Sie nahm ein Foto zur Hand, das in einem Silberrahmen auf Alex’ Schreibtisch stand, und strich mitden Fingern über die Oberfläche. „Trevor zu verlieren war besonders für Brian sehr hart. Er hat immer zu ihm aufgeschaut.“
„Trevor zu verlieren?“
„Momma schickte Trevor nach Maryland zu ihrer Schwester und deren Mann. Es gab dort ein hervorragendes ambulantes Rehabilitationsprogramm. Vor allem
Weitere Kostenlose Bücher