Nachtruf (German Edition)
brachte ihn das fort von unserem Vater. Trevor konnte sich nicht mehr gegen ihn zur Wehr setzen.“ Mit geröteten Augen sah sie Rain an. „Meine Mutter hat in ihrem ganzen Leben nur eine einzige mutige Tat vollbracht – und das war, als sie James Rivette endlich sagte, jedem die Wahrheit zu erzählen, wenn er Trevor nicht gehen ließe.“
„Sie hätte von Anfang an zur Polizei gehen und dort erzählen können, was wirklich geschehen ist. Ich weiß, sie hatte Angst. Aber du und Brian, ihr hättet ihre Geschichte doch unterstützen können …“
„Sie wollte nicht, dass herauskam, was mein Vater mir angetan hatte. Sie war davon überzeugt, dass mein Leben ruiniert wäre, wenn die Wahrheit ans Licht kam. Wir mussten über das Geschehene Stillschweigen bewahren. Zuerst haben wir aus Angst gelogen und dann, um mich zu beschützen.“
Rain starrte Annabelle an, die auf das Urteil zu warten schien. Als sie kein Urteil erhielt, faltete sie kurz die Hände.
„Mein Vater rührte mich nie wieder an. Nicht nach dem Tag. Knapp drei Monate später zog er aus. Unsere Eltern waren fromme Katholiken, aber er hat der Scheidung zugestimmt.“
Trevors lebensgefährliche Verletzung hatte schließlich den Würgegriff, in dem James Rivette seine Familie gehalten hatte, zerstört. Doch das ist nicht genug, dachte Rain. Es musste eine Strafe für ein derartig gewalttätiges, unmoralisches Verhalten geben.
„Aber Trevor erholte sich wieder“, bemerkte sie. Der Trevor, den sie kannte, war stark und gesund, sein Verstand war scharf und voller Intelligenz. Es gab nichts an ihm, das auf Schwäche oder Gebrechlichkeit hindeutete – sei es körperlich oder sonst wie. Die Auswahlverfahren für Agenten beim FBI waren gnadenlosstreng, und er hatte sie offensichtlich alle bestanden.
„Ja. Die Spezialisten in Maryland waren sich sicher, dass Trevor keinen bleibenden Hirnschaden erlitten hatte“, sagte Annabelle. „Es war eher so etwas wie ein elektrischer Kurzschluss gewesen. Die Drähte in seinem Kopf waren gewissermaßen durcheinandergeraten und hatten sich erst wieder gerade ausrichten müssen. Es waren einige Monate Therapie nötig, doch Trevor war jung und sehr zielstrebig. Er kam wieder völlig in Ordnung.“ Sie stellte das Foto wieder auf den Schreibtisch. „Seine Erinnerung an das, was an dem Tag geschah, kam allerdings nie wieder zurück. Er stellte natürlich Fragen, aber er hörte nur Lügen.“
„Niemand hat ihm je die Wahrheit gesagt?“
„Manchmal versuche ich, mir einzureden, dass es so besser für ihn war“, gab Annabelle leise zu. „Tante Susan und Onkel Frank hatten keine eigenen Kinder. Sie behandelten Trevor wie einen Sohn. Zum ersten Mal erlebte er so etwas wie ein richtiges Familienleben. Nachdem er wiederhergestellt war, konnte er dort eine Privatschule besuchen, wo er sich aufs College vorbereitete. Er bekam sogar ein Stipendium und blieb dann in Maryland. Trevor war schon immer klug. Er blühte förmlich auf ohne uns.“
„Jetzt weiß er, was passiert ist, oder? Wie hat er es herausgefunden?“
Annabelle blickte auf die Narbe an ihrem Handgelenk. „Tante Susan hat es ihm schließlich erzählt … nach meinem Selbstmordversuch. Sie fand, es wäre Zeit, mit dem Lügen aufzuhören.“ Sie schüttelte den Kopf. Ihre dunklen, welligen Haare schimmerten im gedämpften Licht. „Sie holte Trevor nach Hause, damit er mich besuchen konnte, als ich im Krankenhaus lag. Ich war in der Psychiatrie. Er wollte sich nichts anmerken lassen, doch er war außer sich. Ich stand unter starken Medikamenten, aber ich erinnere mich genau, wie er meine Hand hielt und mich fragte, warum wir ihn die ganze Zeit angelogen hätten.“ Annabelle wirkte unerschütterlich und stark, doch in ihren Augenstanden all die Gefühle, die in ihr wüteten. „Danach zog Trevor wieder weg. Er hielt zwar über die Jahre Kontakt, aber …“
Rain empfand tiefes Mitgefühl für Annabelles Verlust. „Du und Brian hattet keine Wahl bei dem Ganzen. Bestimmt versteht Trevor das heute. Ihr wart ebenso Opfer wie er.“
„Trevor liebte Brian und mich mehr als alles andere auf dieser Welt, und wir haben ihn verraten. Er hat so viel durchgemacht, und es fiel ihm unendlich schwer, wieder Vertrauen zu fassen. Wenn du ihn gern hast … Ich dachte nur, du solltest das alles über ihn wissen.“
Das alles war lange her, und doch schienen die Auswirkungen bis zum heutigen Tag anzuhalten. Rain ahnte, was es Annabelle gekostet hatte, diese brutalen
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