Nachtruf (German Edition)
Lauftraining in der schwülen Luft. Sofort richtete er den Blick aus seinen kakaobraunen Augen auf Brian, der auf dem Ledersofa saß, den Skizzenblock auf dem Schoß und einen Kohlestift in der linken Hand. Alex ging zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Du tropfst auf meine Skizze.“
„Entschuldige.“ Sein Freund grinste und steuerte auf die gut ausgestattete Küche zu. Alex war ein hervorragender Koch – noch etwas, dessen Brian sich glücklich schätzen konnte. „Rate mal, wen ich getroffen habe“, rief Alex. Brian hörte, wie er etwas aus dem Kühlschrank holte, wahrscheinlich den Krug mit dem frisch gepressten Orangensaft.
„Wen denn?“
„Rain. Sie saß in einem Café am French Market.“ Alex kam in den Wohnbereich zurück. Zu seinem Orangensaft nahm er sich ein Schokocroissant aus dem Korb auf dem Tisch. „Ich habe sie an deine Vernissage morgen erinnert.“
Brian blickte von seiner Zeichnung auf. „Findest du das nicht etwas seltsam? Ich meine, Trevor wird da sein.“
„Was ist daran seltsam?“
„Sie ist immerhin Teil der laufenden Ermittlungen.“
Alex zuckte mit den Schultern. „Na und? Ist ja nicht so, als ob sie unbedingt übers Berufliche reden müssen.“
Brian hatte Alex im Vertrauen erzählt, dass er Trevor mit Rain bekannt gemacht hatte. Auch den Verdacht seines Bruders, einer der Anrufer in der Radiosendung könnte für eine Mordserie verantwortlich sein, die erst vor Kurzem ein Opfer in New Orleans gefordert hatte, hatte er nicht verschwiegen.
„Denk dran, dass sie zu vermeiden versuchen, dass irgendetwas über den Serienkiller an die Presse geht“, sagte er. „Ich hoffe, du hast niemandem etwas davon erzählt.“
„Ach, das sagst du mir erst jetzt? Und ich habe selbstverständlichgerade mit dem Redaktionsleiter der Times-Picayune telefoniert.“
Bei Alex’ sarkastischer Antwort verdrehte Brian die Augen und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Arbeit zu.
Alex stellte sein Frühstück auf dem Tisch ab und betrachtete die Zeichnung.
„Das ist gut“, stellte er fest und beobachtete Brian bei der Arbeit.
„Gut genug für Synapse ?“
In Alex’ Stimme schwang merklich Stolz mit. „Ich erkenne Talent, wenn ich es sehe, Brian.“
„Ich bin total nervös wegen der Vernissage.“
„Machst du dir Sorgen wegen der Kritiker, die kommen werden und nur darauf warten, deine Arbeit schlechtzumachen? Oder geht es darum, dass dein großer Bruder mich endlich kennenlernt?“
„Alex …“
„Wir sind jetzt seit fast zwei Jahren zusammen. Ich finde es einfach merkwürdig, dass ich den Kerl noch nicht einmal zu Gesicht bekommen habe. Das ist alles.“
„Er ist eben nicht oft hier“, entgegnete Brian leise. „Morgen Abend werde ich ihn dir vorstellen.“
„Er wird mich nicht mögen. Er ist ein Schwulenhasser, und ich kann meine Neigung nun mal nicht verbergen.“ Als Brian ihm einen vielsagenden Blick zuwarf, hob Alex die Augenbrauen. „Was? Das hast du doch selbst gesagt.“
„Das habe ich ganz sicher nicht gesagt.“ Brian legte die Skizze auf den Tisch. Er war sich unsicher, wie er die komplizierte Beziehung zu seinem Bruder erklären sollte. Unruhig trat er ans Fenster und warf einen Blick hinaus. Bei den Musikern klingelte die Kasse. Ihre Instrumentenkästen füllten sich mit Münzen und Geldscheinen. Der Weltuntergangs-Prophet war weitergezogen. An seiner Stelle hatte ein Straßenkünstler seine Staffelei in der Nähe der Band aufgebaut. Wahrscheinlich hoffte er, vom wachsenden Publikum zu profitieren. Eine Weile hatte auchBrian seine Sucht finanziert, indem er gegen Bargeld Bleistiftzeichnungen von Touristen angefertigt hatte. Er war clean geblieben, solange er nicht genügend Geld gesammelt hatte. Aber wenn er genug beisammengehabt hatte, war er losgezogen, an den Rand von Storyville, um sich Stoff zu beschaffen. An seinem absoluten Tiefpunkt hatte er sich sogar ein- oder zweimal prostituiert, um sich Heroin oder Kokain besorgen zu können. Doch das war gewesen, bevor er Alex kennengelernt hatte. Es war Teil einer Vergangenheit, die er vergessen wollte. Er starrte auf den goldenen Ring an seiner linken Hand. All das erschien ihm heute wie das Leben eines anderen. Brian wusste nur zu gut, wie viel Glück er gehabt hatte, dass er am Leben und gesund war.
„Ich denke, es geht nicht darum, dass ich schwul bin“, sagte er und sah weiter aus dem Fenster. „Er geht um meine Sucht. Trevor hat damals Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um
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