Nachtruf (German Edition)
zusammengewachsen war. Damals war er acht Jahre alt gewesen.
Er ging den Flur entlang und an der halb offenen Tür zum Schlafzimmer vorbei. Die Dusche im Bad lief, doch er hörte es kaum. Die Erinnerungen hielten ihn gefangen.
Das Schlafzimmer von James und Sarah hatte im Erdgeschoss gelegen, die Kinder hatten im oberen Stockwerk geschlafen. Die Jungen hatten sich das größere Zimmer geteilt, Annabelle hatte die kleine Mansarde, die sich unter das schräge Dach des Hauses schmiegte, für sich gehabt. Trevor konnte nicht anders. Er kletterte die enge Treppe hinauf. Als er oben ankam, spähte er durch die erste Tür. Haley schien inzwischen in dem ehemaligenZimmer von ihm und Brian zu wohnen. Die alten Stockbetten waren durch ein Einzelbett mit Patchworkdecke und Bettrüschen ersetzt worden. Ein Flickenteppich lag auf dem Holzboden, und ein Bücherregal mit Plüschtieren und Puppen stand an der hinteren Wand.
Es sah alles so normal aus.
Trevor wandte sich um und bemerkte die geschlossene Tür zu dem Zimmer, das einst Annabelle gehört hatte. Er nahm seinen Mut zusammen und ging darauf zu. Langsam drehte er den Glasknauf und drückte die Tür auf.
Der Raum war fast leer und wurde offenbar als Rumpelkammer benutzt. Stapel mit Kisten waren zu sehen. In der ordentlichen Handschrift seiner Schwester stand auf einem der Kartons „Weihnachtsdekoration“ und auf einem anderen „Babykleidung Haley“.
Das Bild kam fast augenblicklich zurück und traf ihn wie ein Faustschlag. Sein Vater, der sich umdrehte und ihn ansah, immer noch in seiner Uniform, die Augen dunkel wie zwei tiefe Teiche. Annabelle, die die Hände vors Gesicht geschlagen hatte.
Kannst du nicht anklopfen, Junge?
Hastig schloss er die Tür, sein Herz hämmerte in seiner Brust.
„Trevor?“ Annabelle stand hinter ihm im Flur. Sie trug einen dicken Bademantel, und ihr Haar war feucht und lockte sich um ihr Gesicht. „Ich bin gerade aus der Dusche gekommen und habe dein Auto draußen gesehen …“
Sie stockte. Ihr Blick huschte zu der geschlossenen Tür, bevor er zu seinem Gesicht zurückkehrte.
„War er hier?“, wollte Trevor wissen. „Lüg mich nicht an.“
„Du zitterst ja.“ Sie streckte die Hand nach ihm aus. „Lass uns nach unten gehen.“
Trevor löste sich von ihr und ging im Flur auf und ab. „Er war heute Morgen vor meinem Hotel, Anna.“
Sie ließ die Hände in die Taschen ihres Bademantels gleiten und seufzte ergeben. „Er ist gestern vorbeigekommen und wollte nach dir sehen. Aber vorher war er nie hier, das schwöreich. Er lässt uns in Ruhe.“
„Warum hast du mir das nicht erzählt? Geht es dir gut?“
Sie nickte. „Ich wollte dich nicht aufregen. Haley hatte ihm die Tür aufgemacht. Ich hatte keine Lust, ihm eine Szene zu machen. Er war höchstens eine Minute hier und ging dann wieder.“
„Bitte, schließ die Türen von jetzt an ab, hörst du? Ich konnte eben einfach so ins Haus spazieren.“
„Haley vergisst das manchmal. Wir werden vorsichtiger sein.“
„Das reicht nicht. Gleich Montagmorgen, sobald das Gericht geöffnet hat, wirst du eine einstweilige Verfügung beantragen.“
„Ein Kontaktverbot ist nicht notwendig. Er ist keine Bedrohung mehr. Er ist älter geworden, und das jahrelange Trinken und Rauchen …“
„Oh, mein Gott. Hast du etwa Mitleid mit ihm?“
„Natürlich nicht“, wehrte sie ab. „Ich lasse nur nicht zu, dass er – dass das, was er uns angetan hat – mein Leben weiterhin bestimmt.“ Sie blickte Trevor liebevoll an. „Verstehst du nicht? Er hat uns schon viel zu viel gestohlen. Ich werde nicht erlauben, dass er hierherkommt und mein Leben durcheinanderbringt. Ich werde ihm diese Macht nicht zugestehen.“
Trevor fühlte sich, als ob eine schwere Last auf seiner Brust ruhte. Er hatte Mühe, Luft zu bekommen. Seine Anwesenheit in der Stadt hatte James Rivette in dieses Haus zurückgebracht. Dieser Gedanke allein reichte als Rechtfertigung für all die Jahre, die er seiner Familie ferngeblieben war.
„Trevor, er hat dich uns weggenommen“, flüsterte Annabelle.
„Ich hätte ihn davon abhalten müssen, dir wehzutun.“
„Das hast du. Ganz bestimmt, er hat mich nie wieder angerührt.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte es viel eher wissen müssen.“
Das war der Grund gewesen, warum Annabelle so gut wie nie unter dem Zorn des Vaters zu leiden gehabt hatte. Trevor hatte angenommen, ihre Freundlichkeit und Unschuld wären die Gründe gewesen, weshalb selbst ein
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