Nachtruf (German Edition)
machte.
Nachdem sie ihre Einkäufe erledigt hatte, setzte sie sich in einem Café an einen Tisch im Schatten eines farbenfrohen Sonnenschirms. Sie trank einen Kaffee und blätterte in einem Magazin über Psychologie, das sie sich von zu Hause mitgebracht hatte. Er war ihr nahe genug, um Details erkennen zu können – den silbernen Armreif an ihrem Handgelenk, die anmutige Linie ihres schlanken Halses, das zarte Rosa ihrer lackierten Fußnägel in den flachen Sandalen. Ihre Haut war blass, als ob sie nur selten in die Sonne ging, und er konnte sogar die leichten Sommersprossen auf ihren weißen Schultern erkennen.
Ein Mann in blauen Laufshorts und weißem T-Shirt blieb an ihrem Tisch stehen. Lächelnd stand sie auf und umarmte ihn. Ihre kleine Hand strich durch sein grau meliertes Haar. Er fragte sich, wer dieser Eindringling war. Es war nicht dieser kreolische Bastard, mit dem sie ganz sicher schlief. Ein weiterer Liebhaber? Der Gedanke war ihm zuwider, denn sie schien dadurch seiner Ergebenheit weniger würdig zu sein. Er wollte, nein, er musste den Glauben daran bewahren, dass sie zwar aussah wie ihre Mutter, allerdings viel mehr Moral als sie besaß.
Sie unterhielt sich noch eine Weile mit dem Mann, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und umarmte ihn erneut. Der Mann verabschiedete sich. Als sie sich wieder ihrem Magazin zuwandte, zerzauste eine leichte Brise ihre Haare. Sie strich sie sich aus den Augen.
Wenn sie erst einmal zusammen waren, würde er dafür sorgen, dass sie das Haar bis fast auf die Hüften wachsen ließ. So hatte ihre Mutter es getragen. Er stellte sich vor, wie er mit den Fingern durch die Locken fuhr, die die Farbe von Feuer hatten und sich wie gesponnene Seide anfühlten. Er würde ihr Bäder einlassen, die nach Lavendel dufteten, und in ihr Bett würde er Rosenblätter streuen, auf denen sie sich liebten.
Das Bellen eines Hundes, der an einer Leine fortgezogen wurde, riss ihn aus seinen Fantasien. Rain sah ebenfalls nach dem Störenfried. Schnell trat er hinter einen Marktstand, auf dem sich große, gelbe Melonen häuften. Aus seinem Versteck beobachtete er, wie sie sich hinunterbeugte, um den Hund zu streicheln. Das Tier nahm die Aufmerksamkeit, die sie ihm schenkte, begierig auf und wedelte mit dem Schwanz.
Er ermahnte sich, dass er vorsichtig sein musste. Es war immer noch viel zu früh, um sich zu erkennen zu geben.
Er hatte einen Plan, an den er sich halten musste.
10. KAPITEL
Von der Straße drangen die Klänge einer Jazzband zu dem Loft hoch. Brian Rivette stand am Fenster des Hauses mitten in New Orleans’ wiederbelebtem Warehouse District und ließ die geschäftige Szenerie unter ihm auf sich wirken. Touristen warfen Kleingeld in die offenen Instrumentenkästen der Musiker, und ein Stück die Straße hinab schritt ein Mann mit Dreadlocks in einer weiten weißen Tunika ständig auf und ab. Er trug eine Bibel und ein handgemaltes Schild, das er über seinen Kopf hielt. Brian musste die Augen zusammenkneifen, um es zu lesen:
Armageddon ist nahe. Das Ende steht bevor.
Er drehte sich vom Fenster weg und ließ den Blick durch das Apartment schweifen, das er mit Alex Santos teilte. Ihre Wohnung war offen und weiträumig, mit einem Parkettboden und unverputzten Ziegelsteinmauern. In den Räumlichkeiten war ehemals eine Textilfabrik untergebracht gewesen. Synapse , Alex’ Kunstgalerie, zu der ebenfalls ein Atelier gehörte, befand sich im Erdgeschoss des Gebäudes. Doch Brian zog es vor, hier oben in dem sonnendurchfluteten Loft zu arbeiten. Er kehrte zu dem Skizzenblock zurück, den er auf den Couchtisch gelegt hatte, als draußen die Musik erklang. Die Zeichnung war noch nicht fertig, bislang nur ein paar graue Linien und Schattierungen. Das Skelett sozusagen, das er immer zuerst zu Papier brachte. Vor seinem inneren Auge jedoch nahm die Zeichnung bereits Gestalt an.
Bevor er Alex kennengelernt hatte – bevor er clean geworden war –, waren seine Bilder rauer und ungeschliffener gewesen. Alex, dreizehn Jahre älter und bereits ein erfolgreicher, im ganzen Land gefeierter Fotograf, war sein Mentor gewesen. Er hatte Brians Talent geformt und ihn gezwungen, sich künstlerisch und persönlich neuen Herausforderungen zu stellen. Als Brian sich endlich dazu durchgerungen hatte, den Drogen einfür alle Mal abzuschwören, war Alex an seiner Seite gewesen.
Die Tür zum Loft öffnete sich. Alex kam herein. Sein stellenweise ergrautes Haar war noch feucht vom morgendlichen
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