Nachts unter der steinernen Bruecke
sie zum Pfandleiher getragen hat. Denn sie sind allesamt arme Leute gewesen, keiner von ihnen hat es zu etwas Rechtem gebracht. Vielleicht haben sie allzuviel darüber nachgegrübelt, warum nichts von Meisls Gut in ihre Hände gelangt ist. Vielleicht haben sie immer nur zurück auf das verlorene Erbe geschaut und nicht ins Leben, nicht in die Zukunft. Kleine Leute sind sie geblieben, und was bin ich? Ein verbummelter Student! Aber jetzt, vielleicht, da Meisls Gut... «
Er faßte den Gedanken, der ihm durch den Sinn ging, nicht in Worte. Eine Weile ging er schweigend im Zimmer auf und nieder. Dann erhob sich seine Stimme zu einer Totenklage um die Häuser des Ghettos, die der Zerstörung anheimgefallen waren, denn sein Herz hing an allem, was alt und zum Verschwinden bestimmt war.
»Sie haben das Haus >Zur kalten Herberge niedergerissen«, sagte er, »und das Haus >Zum Kuckucksei«. Sie haben das alte Backhaus niedergerissen, in das meine Mutter Woche für Woche ihren Sabbatkuchen getragen hat. Einmal hat sie mich mit sich genommen, und ich habe die mit Kupfer beschlagenen Tische gesehen, auf denen das Brot geknetet wurde, und die langgestielten Schaufeln, mit denen man es aus dem Ofen holte. Sie haben das Haus >Zur Blechkrone< demoliert und das Haus des hohen Rabbi Loew in der Breiten Gasse. Es hat zuletzt einem Kistenmacher als Magazin gedient, und als man die Kisten forträumte, fand man Vertiefungen in allen Wänden. Sie dienten keinem mystischen Zweck. In ihnen hat der hohe Rabbi seine kabbalistischen Rücher aufbewahrt.«
Er blieb stehen und fuhr fort, die Häuser aufzuzählen, die es nicht mehr gab.
»Das Haus >Zum Mäuseloch«. Das Haus >Zum linken Handschuhe. Das Haus >Zum Tode«. Das Haus >Zur Pfeffernuß«. Und das kleine Haus mit dem sonderbaren Namen, hier in der Gasse, das Häuschen >Keine Zeit«. In dem hat bis vor kurzem ein Hayduckenschneider seine Werkstatt gehabt, der letzte, der sich noch so nannte. Er fertigte Livreen für Herrschaftsdiener an.«
Er trat ans Fenster und blickte über die Giebel, die Höfe, die Bauplätze und die Hausruinen hinweg.
»Das dort«, sagte er, »war das Siechenhaus und das drüben das Armenhaus. Was du dort siehst, ist Meisls Gut.«
Er wies auf zwei Gebäude, von denen nur noch die bloßen Mauern standen, und die Spitzhacken taten weiter an ihnen ihr Werk. Und wir sahen, wie Meisls Gut in Schutt und Trümmer fiel und wie es sich noch einmal vom Boden erhob und in die Höhe stieg, eine dichte Wolke von rötlichgrauem Staub. Noch immer war es Meisls Gut, und es stand, und wir sahen es, bis es ein Windstoß forttrieb und verschwinden ließ.
NACHWOR T
»Mein Tag«, sagte die Rose, »war eines armen Mannes Tag mit Sorge, Müh und Plage. Große Herren und kleine Herren, Schurken, Schwätzer, Schelme und Lügenkredenzer, große Narren und kümmerliche Narren, - sie waren alle da, das war mein Tag.«
»>Was ist mit mir geschehen? Wo bin ich?<«
»Wo sind wir und was ist mit uns geschehen?«
Der Leser befindet sich im siebten Kapitel des Buchs Nachts unter der steinernen Brücke von Leo Perutz. Dieses Buch, Perutz' »kaum auszuschöpfendes Meisterwerk« (Dietrich Neuhaus), ist eines der denkwürdigsten und einzigartigen Erzählwerke deutscher Sprache in diesem Jahrhundert. Denkwürdig ist die Entstehungsgeschichte dieses Werks, die sich von 1924 bis 1951, von der Zwischenkriegszeit über den Faschismus, den Zweiten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit erstreckt und während derer aus dem erfolgreichen Wiener Schriftsteller ein in Palästina lebender nahezu unbekannter Autor wurde. Einzigartig ist die ästhetische Konzeption dieses Werks, das, sowohl Novellen-Zyklus als auch Roman, in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts keine Parallele findet.
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»Mit >Meisls Gut< begonnen«, notierte Leo Perutz am 22. Juli, »die Ghettolegende ganz beendet«, vermerkte er am 15. August 1924 in seinem Notizbuch. »Meisls Gut« war der Arbeitstitel des Romans Nachts unter der steinernen Brücke bis zu dessen Drucklegung, der endgültige Titel wurde im Einvernehmen mit dem Verlag gewählt; »Legende aus dem Ghetto« hieß das erste Kapitel dieses Romans, das 1925 im »Neuen Merkur« abgedruckt und in der Buchfassung »Die Pest in der Judenstadt« überschrieben wurde.
Die Niederschrift der Ghettolegende fiel in die produktivste Schaffensperiode des 1882 in Prag geborenen, seit 189g in Wien lebenden jüdischen Schriftstellers. Sein erster Roman, Die dritte Kugel (1915),
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