Nachts unter der steinernen Bruecke
»Schön war sie und lieblich. Schön war sie wie ein Garten in der Frühlingszeit um die Stunde, da der Morgen anbricht. Ja, sie war schön, die Tochter des Lameth und der Silla.«
Und wie er der Geliebten seiner fernen Jugend gedachte, fielen zwei Tränen aus den Augen des Engels, die waren den Menschentränen gleich.
Epilog
Um die Jahrhundertwende, zu der Zeit, als ich fünfzehn Jahre alt und Schüler des Gymnasiums war — ein schlechter Schüler, der dauernd Nachhilfe benötigte —, sah ich die Prager Judenstadt, die diesen Namen freilich schon lange nicht mehr führte, sondern die »Josefstadt« genannt wurde, zum letztenmal, und in meiner Erinnerung lebt sie, wie sie sich damals mir zeigte: Aneinander gedrängte altersschwache Häuser, Häuser im letzten Stadium des Verfalls, mit Vor- und Zubauten, die die engen Gassen verstellten. Diese krummen und winkeligen Gassen, in deren Gewirr ich mich auf das hoffnungsloseste verlaufen konnte, wenn ich mich nicht vorsah. Lichtlose Durchlässe, düstere Höfe. Mauerlücken und höhlenartige Gewölbe, in denen Trödler ihre Waren feilhielten, Ziehbrunnen und Zisternen, deren Wasser von der Prager Krankheit, dem Typhus, verseucht war, und in jedem Winkel, an jeder Ecke eine Spelunke, in der sich die Prager Unterwelt zusammenfand.
Ja, ich kannte das alte Judenviertel. Dreimal in der Woche durchquerte ich es, um in die Zigeunergasse zu gelangen, die von der Breiten Gasse, der Hauptstraße des einstigen Ghettos, in die Gegend des Moldauufers führte. Hier in der Zigeunergasse, unter dem Dachstuhl des Hauses »Zum Kalkofen«, hatte mein Hauslehrer, der cand. med. Jakob Meisl seine Studentenbude.
Ich habe sie noch heute vor Augen, ein halbes Jahrhundert hat ihr Bild in meinem Gedächtnis nicht verwischen können. Ich sehe den Schrank, der sich nicht schließen lassen wollte und dem Besucher den Ausblick auf zwei Anzüge, einen Regenmantel und ein Paar aufrechtstehender Kanonenstiefel freigab. Ich sehe die Bücher und die Hefte auf dem Tisch, auf den Stühlen, auf dem Bett, auf der Kohlenkiste und auf dem Fußboden, einzeln und in Stößen, und auf dem Fensterbrett die drei Blumentöpfe mit zwei Fuchsien und einer Begonie, von denen mein Hauslehrer sagte, er habe sie nur zu Lehen, sie gehörten der Zimmervermieterin. Unter dem Bett sah der Stiefelzieher hervor, der die Gestalt eines Hirschkäfers mit mächtigem Geweih hatte. Und ich sehe an den stockfleckigen, rauchgeschwärzten und mit Tinte bespritzten Wänden die gekreuzten Schläger des cand. med. Meisl und seine fünf Tabakspfeifen mit ihren Porzellanköpfen, die in lebhaften Farben das Gesicht Schillers, Voltaires, Napoleons, des Feldmarschalls Radetzky und des Hussitenführers Jan Zischka von Trocnow zu Schau trugen.
Mein letzter Besuch in der Judenstadt ist mir deutlicher als meine früheren in Erinnerung geblieben. Es war wenige Tage vor den großen Sommerferien und ich ging mit meinen Schulheften, die ich an einem Riemen trug, durch das einstige Ghetto, dessen Demolierung gerade in diesen Tagen begonnen hatte. Und zu meiner Überraschung stieß ich in der Joachims- und in der Goldenen Gasse auf breite Lücken, die die Spitzhacke gerissen hatte, und durch die Lücken sah ich in Gassen und Gäßchen, die mir bis dahin unbekannt gewesen waren. Und ich mußte mir über Berge von Schutt und Trümmern, von zerbrochenen Ziegelsteinen, Dachschindeln, verbogenen Blechröhren, morschen Brettern und Balken, zerfallenem Hausrat und sonstigem Kehricht meinen Weg bahnen. Verspätet, müde und über und über mit Kalk und Staub bedeckt kam ich in die »Bude« des cand. med. Meisl.
Aus diesem, aber auch noch aus einem anderen Grund ist mir mein letzter Besuch in der Judenstadt so lebhaft und so scharf umrissen im Gedächtnis gebleiben. Denn an diesem Nachmittag zeigte mir mein Hauslehrer das Testament des Mordechai Meisl, das durch Vererbung an ihn gelangt war. Und beide Ereignisse, die Demolierung des Ghettos und das Auftauchen des legendären Testaments, schienen mir miteinander verknüpft zu sein und zusammen den Schlußpunkt der Geschichte zu bilden, die mir mein Hauslehrer durch viele Winternachmittage hindurch erzählt hat, der Geschichte von »Meisls Gut«.
Diese beiden Worte, »Meisls Gut«, hatte ich seit jeher gekannt. In ihnen lag der Reichtum eingeschlossen, jede Art von Besitz, Gold, Juwelen, Häuser, Liegenschaften und Gewölbe, die mit Waren aller Art in Ballen, Kisten und Fässern angefüllt waren, »Meisls
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