Nachts unter der steinernen Bruecke
Gut«, das war nicht der Reichtum, das was der Uberfluß. Und wenn mein Vater erklärte, daß er sich eine Ausgabe, die man von seiner Freigebigkeit erwartete, nicht leisten könne, dann pflegte er hinzuzusetzen: »Ja, wenn ich Meisls Gut hätte!«
Aus einer abgenützten Ledermappe, in der er augenscheinlich Dokumente und alte Familienbriefe verwahrt hielt, holte mein Hauslehrer das Testament des Mordechai Meisl hervor. Es war auf einen Foliobogen niedergeschrieben, der stark vergilbt, stockig und in fünf oder sechs Stükke zerfallen war, denn im Verlauf der Zeiten war das Dokument vermutlich allzu häufig entfaltet, gelesen und wieder zusammengelegt worden. Rehutsam nahm der cand. med. Meisl die einzelnen Stücke in die Hand und fügte sie auf der Tischplatte zu einem Ganzen zusammen.
Das Testament war in böhmischer Sprache abgefaßt. Es begann mit der Anrufung Gottes, der der ewig Lebende und Bestehende und der Erbauer der Welt genannt wurde. In einigen weiteren Zeilen, deren Schrift verwischt und nicht leicht zu entziffern war, bezeichnete der Mordechai Meisl sich als einen armen Mann, der nicht Geld noch Geldeswert sein eigen nenne und dem nichts geblieben sei, als die wenigen Dinge des täglichen oder festtäglichen Gebrauches, über die er nunmehr letztwillig zu verfügen begehre. Doch habe er, fügte er hinzu, keine Schulden und niemand könne mit Fug und Recht eine Forderung gegen ihn geltend machen.
Dann hieß es weiter:
»Das Bett, in dem ich schlafe, wie auch der Schrank sollen meiner Schwester Frummet gehören, daß sie meiner gedenke. Sie sei gesegnet, möge Gott ihr Glück mehren und sie vor Leid behüten. Den Rock für alle Tage und den Feiertagsrock, wie auch den Sitz in der >alten Schuh soll mein Bruder Josef haben. Möge Gott ihn seinen Kindern
lassen zu langen Jahren. Das tägliche und das pergamentne Feiertagsbetbuch soll dem Simon, meiner Schwester Frummet Sohn gehören, und die fünf Bücher Moses, auch von Pergament, dazu die Zinnschüssel für die ungesäuerten Brote dem Baruch, meines Bruders Josef Sohn. Die vier Bücher des Don Isak Abarbanel, die genannt sind >Das Erbteil der Väter<, >Die versammelten Propheten«, >Die Blicke Gottes« und >Die Tage der Welt«, soll der Elias haben, meines Bruders Josef Sohn, der Gelehrte, der von Stufe zu Stufe steigt. Und ihnen allen wünsche ich, was ihren Herzen lieb ist, dazu Gesundheit und Frieden vom Herrn der Welt, und daß er ihnen Kinder und Enkel schenke, die in der Weisheit und in der Lehre leben.«
Unter diesen von Segenswünschen begleiteten Verfügungen standen die Namenszüge der beiden Testamentszeugen. Der cand. med. Meisl hatte festgestellt, daß der eine von ihnen der Sekretär der Prager Judengemeinde war, während der andere das Amt des »Schulrufers« versah, also dafür zu sorgen hatte, daß die Mitglieder der Gemeinde vollzählig und pünktlich zum Gottesdienst erschienen.
»Am Tag, nachdem der Mordechai Meisl begraben worden war«, berichtete mein Hauslehrer, »fielen die Gerichtspersonen und die Leute der böhmischen Hofkammer in sein Haus, um auf alles, was an Geld und Geldeswert und in den Magazinen an Gütern vorhanden war, die Hand zu legen. Doch es war nichts da, und die Überraschung darüber mag groß gewesen sein. Man verhaftete den Philipp Lang, er wurde beschuldigt, bei dem Verschwinden des Geldes die Hand im Spiel gehabt zu haben. Auch die Anverwandten des Mordechai Meisl wurden in Haft genommen, doch ließ man sie bald wieder frei, denn sie konnten überzeugend dartun, daß nichts von dem verschwundenen Geld an sie gelangt war. Nun strengte der Fiskus ein Verfahren gegen die Prager Judengemeinde an und verlangte die Rückerstattung des Meisischen Vermögens. Dieser Prozeß zog sich 180 Jahre lang hin, erst unter Kaiser Joseph II. wurde er niedergeschlagen. Die Prozeßakten liegen im k. u. k. Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, und wenn du sie Seite um Seite durchgehst, wirst du den wahren Rechtstitel, auf den die Krone ihren Anspruch gründete, mit keinem Wort erwähnt finden.«
Mein Hauslehrer legte die Teile, in die das Testament zerfallen war, sorgfältig wieder zusammen und verwahrte sie in seiner Ledermappe.
»Dieser Elias, der von Stufe zu Stufe stieg«, sagte er, »soll mein Urahne gewesen sein, doch die vier Bücher des Don Isak Abarbanel sind nicht auf mich gekommen. Auf dem Weg durch die drei Jahrhunderte müssen sie sich verlaufen haben, sie sind verschwunden, weiß Gott, welcher meiner Vorfahren
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