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Nachts unter der steinernen Bruecke

Nachts unter der steinernen Bruecke

Titel: Nachts unter der steinernen Bruecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Perutz
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nicht an Schleif, er wußte, er würde ihn nicht finden. Er wollte in dieser Nacht bis zu ihrer letzten Stunde in tiefer Versenkung mit den heiligen Gegenständen verbunden sein, aber die Hunde ließen es nicht zu.
Nun verleiht die geheime Lehre, die Kabbala, denen, die in ihre tiefsten Tiefen eingdrungen sind, die ihre Abgründe durchmessen und ihre Höhen erklommen haben, große Kräfte von besonderer Art. Er durfte diese Kräfte nicht verwenden, um sein Leben zu retten, denn damit hätte er dem göttlichen Ratschluß entgegen getrachtet. Aber er konnte sich durch sie zum Meister über diese Kreaturen machen, die ihm nicht gehorchen wollten.
Von dem hohen Rabbi sagte man, er habe mit den Melochim — den Engeln — gesprochen, als wären sie seine Diener gewesen. Er aber, der Berl Landfahrer, hatte sich der enthüllten Geheimnisse und ihrer magischen Kräfte in seinem Leben nie bedient, denn er war von furchtsamer Natur und er wußte: Die Feuerflamme der geheimen Lehre zündet und verzehrt, was nicht Feuer ist wie sie. Jetzt aber, in dieser Stunde, entschloß er sich zitternd und in großer Bangigkeit, es zu versuchen und sich mit Hilfe der geheimen Formel und der magischen Anrufung zum Herrn über die lästigen Hunde zu machen, die ihm in seiner letzten Nacht den Frieden der Seele und die Gottesnähe nicht vergönnen wollten.
Er wartete, bis der Mond hinter den Wolken hervortrat, und dann schrieb er mit dem Finger in den Staub, der die Wände der Zelle bedeckte, den Buchstaben Waw. Mit diesem Zeichen muß jede Beschwörung beginnen, denn im Waw vereinigt sich der Himmel mit dem Weltengrund. Unter das Waw schrieb er das Zeichen des Stiers, denn in diesem Zeichen sind alle Kreaturen inbegriffen, die auf der Erde unter den Menschen leben. Daneben schrieb er das Zeichen des göttlichen Thronwagens in den Staub und darunter in der vorgeschriebenen Reihenfolge sieben von den zehn Gottesnamen und als ersten Ehieh, das ist »das Immer«, denn die Kräfte dieses Namens sind es, von denen der Stier gelenkt und geleitet wird. Und unter das Ehieh setzte er den Buchstaben des Alphabets, der die Kraft und die Gewalt in sich birgt.
Nun wartete er, bis der Mond wieder hinter den Wolken verschwunden war. Dann rief er die zehn Engel mit ihren Namen, die Werkleute Gottes, die zwischen Gott und der Welt stehen. Sie sind genannt: »Die Krone«, »das Wesen«, »die Gnade«, »die Gestalt«, »das hohe Gericht«, »das strenge Beharren«, »die Pracht«, »die Majestät«, »der Urgrund« und »das Reich«. Er beschwor flüsternd die drei himmlischen Urmächte. Und zuletzt rief er mit lauter Stimme die Engelscharen der unteren Bereiche: Die »Lichter«, die »Räder« und die »Tiere der Heiligkeit«. »Ich weiß nicht, warum er schreit. Nicht immer kann man sie verstehen. Vielleicht hat er Hunger«, sagte in diesem Augenblick der Pudel zu dem Bauernköter. Der Berl Landfahrer ist sich nie darüber klar geworden, welcher Fehler sich in seine magische Formel eingeschlichen hatte. Er hatte unter den ersten der sieben Gottesnamen den Buchstaben Theth gesetzt, aber sein Gedächtnis hatte ihn dabei getäuscht. Denn der Buchstabe Theth begreift nicht die Kraft und die Gewalt in sich, sondern das Eindringen und das Erkennen. Und diese Veränderung der Beschwörungsformel hatte bewirkt, daß er nicht die Gewalt über die Kreaturen gewann, sondern nur ihrer Sprache kundig wurde.
Er dachte darüber nicht nach. Er wunderte sich auch nicht darüber, daß er plötzlich verstehen konnte, was der Pudel zu dem Bauernhund sagte. Es erschien ihm selbstverständlich, daß er es verstand. Es war so einfach und so leicht. Er konnte nur nicht begreifen, wieso er es bisher nicht verstanden hatte.
Er lehnte sich in seinem Winkel zurecht und hörte zu, was die Hunde einander sagten.
»Hunger habe ich auch«, knurrte der Bauernköter.
»Ich werde dich morgen zu den Fleischbänken führen«, versprach ihm der Pudel. »Ihr Landhunde findet euch allein ja nicht zurecht. Du wirst aufrecht auf zwei Beinen gehen und einen Stock im Maul tragen, und für diese Kunst wird man dir einen schönen Knochen geben mit Fleisch und Fett daran.«
»Zu Hause auf dem Hof bekam ich Knochen, ohne daß ich auf zwei Beinen gehen mußte«, sagte der Bauernhund. »Auch Grütze bekam ich. Ich mußte dafür nur den Hof hüten und achthaben, daß sich die Füchse nicht über unsere Gänse hermachten.«
»Was sind das — >die Füchse»Füchse«, wiederholte der

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