Nachts unter der steinernen Bruecke
Friede sei mit ihm. Heut bin ich der Berl Landfahrer, der in der Ufergasse im Haus >Zum Hahn< wohnt, und morgen heiß' ich der Berl Landfahrer, der in der Wahrheit ist. Gestern wüßt' ich nicht, wie gut es mir in der Welt erging: Ich hab' gegessen, was mich gelüstete, hab' in der Schrift gelesen und mich des Abends in mein Bett gelegt. Heut ist die Hand des Feindes über mir. Wem soll ich's klagen? Den Steinen in der Erde muß ich es klagen. Was hilft's? Ich muß ertragen, was Er über mich beschlossen hat. Gelobt seist Du, ewiger und gerechter Richter! Ein Gott der Treue bist Du, Dein Tun ist ohne Fehle.«
Und da es dunkel geworden war, wendete er sein Gesicht gegen Osten und sprach das Abendgebet. Dann kauerte er sich in einen Winkel der Zelle auf der Erde nieder, so daß er den Hund, der wiederum knurrte, im Auge behalten konnte.
»Kalt ist es, als ob Himmel und Erde zusammenfrieren wollten«, sagte er. »Der Hund will auch nicht Frieden halten, knurrt und bleckt die Zähne. Wenn er erst wüßt', was ihm bevorsteht! Aber solch ein Tier, — was verliert es, was kann man ihm nehmen? Nur das sinnliche Leben. Der Mensch verliert den Ruach, sein geistiges Wesen, und wir Juden, wir verlieren mit dem Leben mehr als alle anderen Menschen, denn was wissen denn die anderen von der süßen Freude, die wir gewinnen, wenn wir uns in die Bücher der Frommen versenken, in das >Buch der Ährenlese«, in das >Buch der vier Reihen«, in das >Buch des Lichtes«.«
Er schloß die Augen und flüchtete mit seinen Gedanken in die Höhen und Tiefen der geheimen Lehre, von der es heißt, daß sie über zehn Stufen zu den Engeln Gottes hinaufführt. Er tat dies, weil geschrieben steht: »Beschäftige dich mit den Geheimnissen der Weisheit und der Erkenntnis, so wirst du die Angst vor dem Morgen in dir überwinden.« Und die Angst vor dem Morgen war groß in ihm und fast nicht zu ertragen.
Er durchmaß in seinem Geiste die Welt der göttlichen Gewalten, die von den Eingeweihten »Apirjon«, das ist »die Hochzeitssänfte« genannt wird, dort sind die »ewig Leuchtenden« zu Hause, die auch »die Bringer der Einsicht« heißen, sie sind in dieser Weklt die Stützen und die Säulen. Er sann über die bewegenden Kräfte nach, die der vierbuchstabige Gottesname in sich birgt, und über den Geheimnisvollen, der sie beherrscht, der »der Verborgenste unter den Verborgenen« genannt wird, »der, der gänzlich unerkennbar ist«. Er ließ die Buchstaben des Alphabetes mit ihrer nur dem Wissenden verständlichen Bedeutung an sich vorüberziehen; wie er aber zur Betrachtung des Caf gelangte, das, wenn es am Ende eines Wortes steht, das Lächeln Gottes ist, da wurde die Türe aufgeschlossen und geöffnet, und der Schließer stieß den zweiten Hund zu ihm hinein.
Dieser Hund war ein weißer Pudel mit zottigem Haar und je einem schwarzen Fleck unter dem rechten Auge und über dem linken Ohr. Der Berl Landfahrer kannte ihn, die ganze Prager Judenstadt kannte ihn, denn dieser Pudel war viele Jahre lang im Hause des reichen Mordechai Meisl gehalten worden, der dann als armer Mann gestorben war. Und seit dem Tod des Mordechai Meisl strich der ' Hund in den Gassen der Alt- und Judenstadt umher, suchte sich seine Nahrung bald hier, bald dort und war mit jedermann gut Freund, doch er wollte keinen neuen Herrn haben.
»Meisls seligen Angedenkens Pudelhund«, murmelte der Berl Landfahrer betroffen. »Dem wollen sie also auch ans Leben! Wer das dem Meisl selig gesagt hätt', daß sein Pudelhund einmal am Galgen hängen müßt'!«
Er sah den beiden Hunden zu, wie sie einander nach Hundeart begrüßten, indem sie kläffend übereinander herfielen und sich balgten. Bald aber wurde ihm ihr Lärmen verdrießlich, denn die Hunde wollten nicht aufhören, einer hinter dem anderen in der Zelle hin und her zu jagen und dabei zu knurren und zu kläffen. Und nun begannen auch die Hunde des ganzen Viertels sich in den Lärm zu mengen, sie bellten und heulten bald aus der Nähe und bald aus der Ferne.
»Stille!« rief der Berl Landfahrer erzürnt den beiden Hunden zu. »Müßt ihr denn immer knurren und kläffen, könnt ihr nicht Ruhe halten? Es ist spät, die Leut' wollen schlafen.«
Aber das war wie in den Wind gesprochen, die Hunde hörten nicht auf ihn und fuhren fort, zu lärmen und zu toben. Der Berl Landfahrer wartete eine gute Weile, er dachte, die beiden Hunde würden vielleicht doch ihres Spieles müde werden und sich zum Schlafen niederlegen. Er selbst dachte
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