Nachts wenn der Teufel kam
anzufertigen. Erst an den Tatorten wird restlos klar werden, welche Verbrechen der Köpenicker Frauenmörder tatsächlich verübt hat. Um ihn bei Laune zu halten, gibt man den Lokalterminen fast den Charakter eines Familienausflugs. Die Beamten gehen mit Lüdke zum Baden. Sie führen ihn ungefesselt durch die Stadt. Sie erfüllen seine Essens- und Raucherwünsche, soweit es möglich ist.
Bruno ist wieder guter Laune. Den Zwischenfall in der Zelle hat er vergessen. Er reißt Witze, und er lacht über Witze – am Morgen zum Beispiel, wenn ihn Kriminalsekretär J. rasiert oder wenn Kriminalsektretär M. mit ihm einen Mord rekonstruiert. Dann legt er sich hin, dann wiederholt er mit schauriger Eindringlichkeit, wie er seinen Opfern begegnete, wie er sie überfiel, wie er sie mordete.
Örtliche Polizei sperrt die Tatorte ab. Fast in allen Fällen aber weiß die Bevölkerung, um was es geht, wenn auch die meisten Morde lange zurückliegen.
Die Sonderkommission tagt unter freiem Himmel. Ein Tisch wird aufgestellt, ein Stuhl. Die Sekretärin schreibt sofort nieder, was Kriminalkommissar Franz nach den Aussagen Bruno Lüdkes in das Protokoll diktiert. Sie heißt Trude S. und ist eine vollschlanke Frau in mittleren Jahren. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet sie für die Berliner Mordkommission, und die tagtägliche Begegnung mit Kapitalverbrechen hat für sie längst jeden Schrecken verloren.
Die Beamten haben es sich bequem gemacht. Sie rauchen. In zehn Minuten wird der Staatsanwalt kommen, und dann geht es weiter. Bruno Lüdke sitzt am Boden und starrt vor sich hin. Bisher hat er keinen einzigen Fluchtversuch unternommen. Trotzdem liegen die Pistolen der Beamten griffbereit.
Es ist ein sehr warmer Frühlingstag. Die Kirschbäume blühen. Die Wiesen sind sattgrün. Jedes Mitglied der Sonderkommission ist froh, für ein paar Wochen aus der brennenden Reichshauptstadt herauszukommen.
Auf einmal passiert es. Ohne Vorwarnung. Bruno Lüdke springt auf. Ein, zwei Sätze. Er stürzt sich auf Trude S. und reißt sie zu Boden. Bevor noch jemand eingreifen kann, schnüren ihr seine brutalen Pranken den Hals zusammen.
Die Beamten schnellen hoch und werfen sich blitzschnell auf Bruno Lüdke, um ihn von der Protokollführerin zurückzureißen. Der Mann verfügt über solche Kräfte, daß er sie zunächst abschütteln kann. Er läßt von der ›Bockwurst-Trude‹ ab und schlägt wütend auf die Kriminalbeamten ein. Das Handgemenge dauert zwei Minuten. Brunos Gesicht ist verzerrt, seine Stirne schweißnass. Er hat die tückischen, kleinen Augen eines Gorillas. Geduckt pariert er die Angriffe seiner Gegner, fährt blitzschnell herum, wenn er von hinten angegangen wird, boxt und schlägt um sich – einer gegen vier.
Ein Massenmörder gegen vier Polizeibeamte.
Plötzlich taut Lüdkes verzerrtes Gesicht auf. Er lacht und läßt sich überwältigen.
»Aber dem Onkel Max mit der Brille hab' ick es tüchtig jejeben!« sagt er.
Er läßt sich widerspruchslos fesseln, setzt sich in das Gras, als ob nichts geschehen sei, und wirft den Beamten, die sich um die Protokollführerin kümmern, zotige Bemerkungen zu.
»Tut mir leid«, sagt der Kriminalkommissar Franz, »darauf war ich nicht gefaßt.«
»Nicht so schlimm«, entgegnet Fräulein S. burschikos. Ihr Berliner Humor ist wieder da. »So etwas ist mir wirklich noch nicht passiert.«
»Jetzt wären Se hin, Frollein, wenn wir alleene jewesen wären«, ruft Bruno der Überfallenen zu.
»Du hältst den Mund«, befiehlt Kriminalkommissar Franz. »Wir zwei unterhalten uns noch.«
»Een bisschen Spaß wird doch noch sein dürfen. Ick wollt' doch bloß mal sehen, ob ick det noch kann.« Er ist stolz auf seine Demonstration.
»Du bist verrückt.« Franz fällt es schwer, seinen alten Ton Bruno gegenüber zu finden.
»Det sag' ick ja ooch immer.«
Die Sonderkommission bricht für diesen Tag ihre Ermittlungen ab. Der Vorfall wird zu Protokoll genommen. Die Beamten machen sich ihre eigenen Gedanken. Ob Bruno den Zwischenfall nur inszenierte, um seinen Schwachsinn bewußt vorzuführen? Ob der Mann, der mit diabolischer Schläue sechzig, siebzig, achtzig und vielleicht noch mehr Morde verübte, gar nicht so dumm ist, wie er aussieht?
Noch schwankt Kriminalkommissar Franz in der Beurteilung. Ohne Zweifel ist Bruno Lüdke geistig weit zurückgeblieben, primitiv und stupid. Raffiniert ist er erst, wenn er ein Verbrechen verübt, wenn er es vorbereitet, wenn er danach untertaucht. Darüber
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