Nachts
in die entlegensten Ecken des Raums. Er wußte nicht, ob die Welt der sechziger Jahre, die sie betreten hatten, als die Natriumdampflampe zur Quecksilberdampflaterne geworden war, echt oder Illusion gewe
sen war, aber er wußte, sie war nicht mehr da.
Die umgekippten Regale standen wieder. In diesem Gang lag ein Haufen Bücher ein Dutzend oder so , doch die hatte er wahrscheinlich selbst heruntergestoßen, als er sich auf die Füße gerappelt hatte. Draußen war das Toben des Sturms vom Brüllen zum Murmeln geworden. Sam konnte schwachen Regen auf das Dach prasseln hören.
Das ArdeliaDing war fort. Weder auf dem Boden, auf den Bü
chern oder an ihm waren Blutspritzer oder Fleischfetzen.
Nur eine einzige Spur war von ihr übriggeblieben: ein goldener Ohrring, der auf dem Boden glitzerte.
Sam stellte sich zitternd aufrecht und kickte ihn fort. Dann senkte sich das Grau über ihn, er schwankte mit geschlossenen Augen und wartete ab, ob e r ohnmächtig werden würde oder nicht.
»Sam!« Es war Naomi, und es hörte sich an, als würde sie weinen.
»Sam, wo bist du?«
»Hier!« Er hob die Hand, packte ein Büschel Haare und zog fest daran. Wahrscheinlich war das dumm, aber es funktionierte. Das wabernde Grau verschwand nicht völlig, aber es wich zurück. Er ging mit ausgreifenden, sorgfältigen Schritten wieder in den Katalogsaal zurück.
Derselbe Schreibtisch, ein häßlicher Holzklotz auf Beinen, stand dort, aber anstelle der Lampe mit ihrem altmodischen Fransenschirm sah er eine Neonröhre. Die schrammige Schreibmaschine war einem AppleComputer gewichen. Und wäre er noch nicht sicher gewesen, in welcher Zeit er sich befand, ein Blick in die Kartons auf dem Boden hätte ihn überzeugt: Sie waren voll Styroporchips.
Naomi kniete noch neben Dave am Ende des Gangs, und als Sam an ihrer Seite war, sah er, daß der Feuerlöscher (obwohl dreißig Jahre vergangen waren, schien es derselbe zu sein) wieder fest in seiner Halterung montiert war aber die Form seines Griffs war immer noch auf Daves Wange und Stirn abgebildet.
Er hatte die Augen offen, und als er Sam sah, lächelte er.
»Nicht schlecht«, flüsterte er. »Ich wette Sie haben gar nicht gewußt daß das in Ihnen steckt.«
Sam verspürte ein überwältigendes, unermeßliches Gefühl der Erleichterung. »Nein«, sagte er. »Das habe ich nicht gewußt.« Er bückte sich und hielt drei Finger vor Daves Augen. »Wie viele Finger sehen Sie?«
»Etwa vierundsiebzig«, flüsterte Dave.
»Ich rufe den Krankenwagen«, sagte Naomi, die aufstehen wollte. Doch ehe es ihr gelang, packte Daves linke Hand sie am Handgelenk.
»Nein. Noch nicht.« Er sah zu Sam. »Bücken Sie sich. Ich muß flüstern.«
Sam bückte sich über den alten Mann. Dave legte ihm eine zitternde Hand auf den Nacken. Seine Lippen kitzelten Sams Ohr, und Sam mußte sich zum Stillhalten zwingen, so sehr kitzelte es.
»Sam«, flüsterte er. »Sie wartet. Vergessen Sie das nicht sie wartet.«
»Was?« fragte Sam. Er fühlte sich wie vom Donner gerührt.
»Dave, was meinen Sie damit?«
Aber Daves Hand war heruntergefallen. Er sah zu Sam auf, durch Sam hindurch, und seine Brust hob sich flach und schnell.
»Ich gehe«, sagte Naomi, eindeutig beunruhigt. »Unten ist ein Telefon.«
»Nein«, sagte Sam.
Sie drehte sich mit offenen Augen und wütend gefletschten, hübschen weißen Zähnen zu ihm herum. »Was soll das heißen, nein? Bist du verrückt? Sein Schädel ist gebrochen, wenn nichts Schlimmeres! Er «
»Er stirbt, Sarah«, sagte Sam behutsam. »Sehr bald. Bleib bei ihm.
Sei ihm ein Freund.«
Sie blickte nach unten und sah diesmal, was Sam gesehen hatte.
Die Pupille von Daves linkem Auge war nicht größer als ein Steck
nadelkopf; die Pupille des rechten war riesig und starr.
»Dave?« flüsterte sie ängstlich. »Dave?«
Aber Dave sah wieder Sam a n. »Nicht vergessen«, flüsterte er.
»Sie w «
Seine Augen wurden ruhig und starr. Seine Brust hob sich noch einmal senkte sich und hob sich nicht mehr.
Naomi fing an zu schluchzen. Sie legte ihm die Hand auf die Wange und machte seine Augen zu. Sam kniete sich gramgebeugt neben sie und legte ihr einen Arm um die Taille.
Kapitel Fünfzehn
ANGLE STREET (III)
1
In dieser und der nächsten Nacht konnte Sam Peebles keinen Schlaf finden. Er lag allein im Bett, hatte sämtliche Lichter im zweiten Stock eingeschaltet und dachte über Dave Duncans letzte Worte nach: Sie wartet.
Kurz vor Morgendämmerung in der zweiten Nacht glaubte
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