Nachts
diese seltsamen Gesetzeshüter aufkreuzten? Was dann? Was würden sie mit einem machen? Was mochten sie als Ersatz für die verlorenen Bücher mitnehmen? Es war lange her, seit ich an die Bibliothekspolizei gedacht hatte (ich kann mich deutlich erinnern, wie ich mich vor sechs oder acht Jahren mit Peter Sträub und seinem Sohn Ben darüber unterhalten habe), doch jetzt fielen mir diese ganzen gräßlichen und doch zugleich irgendwie fesselnden Fragen wieder ein.
Ich dachte die nächsten drei oder vier Tage über die Bibliothekspolizei nach, und dabei fiel mir der Umriß nachfolgender Geschichte ein. So ist das bei mir normalerweise mit Geschichten, aber für gewöhnlich dauert die Zeit des Nachdenkens viel länger als im vorliegenden Fall. Als ich anfing, trug die Geschichte den Arbeitstitel »Die Bibliothekspolizei«, und ich hatte keine klare Vorstellung, was ich daraus machen würde. Ich dachte mir, es würde vielleicht eine komische Geschichte werden, eine Art Vorstadtalptraum, wie sie der verstorbene Max Shulman immer zusammengeschustert hat. Schließlich war die Vorstellung zu komisch, oder etwa nicht? Ich meine, eine Bibliothekspolizei! Wie absurd!
Aber mir wurde eines klar, das ich schon wußte: Kindheitsängste sind tückisch beharrlich. Schreiben ist ein Akt der Selbsthypnose; in diesem Zustand findet oft eine Art völliger emotionaler Erinnerung statt, und Schrecken, die längst tot sein sollten, stehen wieder auf und wandeln.
Während ich an dieser Geschichte arbeitete, ging mir das so. Als ich anfing, wußte ich, daß ich die Bibliothek als Kind geliebt hatte
warum auch nicht? Nur dort konnte ein vergleichsweise armer Junge wie ich alle Bücher bekommen, die er wollte , aber beim Schreiben ging mir dann die Wahrheit auf: Ich hatte auch Angst davor gehabt. Ich hatte Angst gehabt, mich zwischen den dunklen Reihen zu verirren, ich hatte Angst, ich könnte in einer dunklen Ecke des Lesesaals vergessen und die Nacht über eingeschlossen werden, ich hatte Angst vor der alten Bibliothekarin mit den blauen Haaren und der Hornbrille und dem fast lippenlosen Mund, die einem mit ihren langen, blassen Fingern in den Handrücken kniff und »Pssst!« flüsterte, wenn man vergaß, wo man war, und anfing zu laut zu reden. Ja, und ich hatte auch Angst vor der Bibliothekspolizei gehabt.
Was mir bei einem viel längeren Werk, dem Roman Christine, passiert war, wiederholte sich hier. Nach etwa dreißig Seiten war die Situation plötzlich nicht mehr komisch. Und nach etwa fünfzig Seiten schlug die Geschichte plötzlich mit wehenden Fahnen nach links in die dunklen Orte aus, die ich so oft bereist habe und über die ich immer noch so wenig weiß. Schließlich fand ich den Typen, den ich gesucht hatte, und konnte lange genug den Kopf heben, um ihm in die unbarmherzigen silbernen Augen zu sehen. Ich habe versucht, eine Skizze von ihm für Sie, mein Dauerleser, zurückzubringen, aber sie ist vielleicht nicht sehr gut.
Sehen Sie, meine Hände haben ziemlich gezittert, als ich sie gemacht habe.
Kapitel Eins
EINSTAND
1
Alles, überlegte sich Sam Peebles später, war die Schuld dieses gottverdammten Akrobaten. Hätte sich der Akrobat nicht ausgerechnet zum ungünstigsten Zeitpunkt betrunken, wäre Sam der ganze Ärger erspart geblieben.
Nicht schlimm genug, dachte er voll möglicherweise gerechtfertigter Verbitterung, daß das Leben ein schmaler Balken über einen endlosen Abgrundist, ein Balken, auf dem wir mit verbundenen Augen schreiten müssen. Das ist schlimm, aber nicht schlimm genug. Manchmal werden wir auch noch gestoßen.
Aber das war später. Vorher, noch vor dem Bibliothekspolizisten, kam der betrunkene Akrobat.
2
In Junction City war der letzte Freitag eines jeden Monats
»Spea
ker’s Night« in der hiesigen Rotarians’ Hall. Am letzten Freitag im März 1990 sollten die Rotarier Amazing Joe hören und sich von ihm unterhalten lassen, einen Akrobaten von Curry & Trembo’s AllStar Zirkus und Fliegendem Jahrmarkt.
Das Telefon auf Sam Peebles Schreibtisch im Makler und Versicherungsbüro von Junction City läutete am Donnerstagnachmittag um fünf nach vier. Sam nahm ab. Sam nahm immer ab entweder Sam persönlich oder Sam auf dem Anrufbeantworter, denn er war Besitzer und einziger Angestellter des Makler und Versicherungsbüros von Junction City. Er war kein reicher Mann, aber hinreichend glücklich. Er erzählte den Leuten gerne, daß sein erster Mercedes noch in ferner Zukunft lag, aber er hatte einen
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