Nachtsafari (German Edition)
»Hi, Silke Ingwersen«, erwiderte sie und sah dabei auf die Uhr. »Danke, aber ich habe überhaupt keine Zeit.« Sie zog ihren Wagenschlüssel aus der Tasche und wandte sich von ihm ab.
»Bitte«, sagte er und wurde von einem Gefühl überschwemmt, das er seit seiner Teenagerzeit nicht mehr gespürt hatte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, bekam aber nur ein weiteres gestottertes »Bitte« hervor.
Für einige Sekunden musterte sie ihn schweigend. Der Sommerhimmel spiegelte sich in ihren Augen wider. Ihm wurden die Knie weich.
»Okay«, entgegnete sie überraschend und marschierte quer über die Straße auf das Restaurant zu.
Benommen folgte er ihr, und kurz darauf nahmen sie an einem der langen Holztische vor dem Lokal Platz. Sie fegte die heruntergefallenen Kastanienblüten vom Tisch und stellte ihre Umhängetasche neben sich auf die Sitzbank.
»Keinen Alkohol«, wehrte sie sein Angebot für einen leichten, spritzigen Weißwein ab. »Cola, bitte. Ich muss noch fahren.«
Während sie die Speisekarte eher aus Verlegenheit studierten, stellten sie aber beide fest, dass sie ziemlich hungrig waren und dass Spaghetti alle vongole ihrer beider Lieblingsgericht war. Mar cus rief die Kellnerin an den Tisch und gab die Bestellung auf.
»Das war sehr mutig von Ihnen«, sagte er, um das entstandene Schweigen zu füllen. »Der Kerl war größer und jünger als Sie. Und viel kräftiger.«
»Ich war wütend«, erklärte sie mit einem Schulterzucken.
Das war vor zweieinhalb Jahren gewesen. Nachdem sie viel zu lange eine Wochenendbeziehung geführt hatten, sich oft für mehrere Wochen aus beruflichen Gründen nicht sehen konnten, war Silke Anfang dieses Jahres zu ihm nach München gezogen. Nun wollten sie am 14. Januar heiraten, und zum ersten Mal in seinem Leben wusste Marcus, wie sich reines Glück anfühlte.
In den folgenden Monaten, in denen sein Leben auf den Kopf gestellt wurde, Dinge passierten, die er sonst nur von höllenschwarzen, durchwachten Nächten kannte, flüchtete er sich oft in den innersten Kern seiner Seele, in die Welt, wo es Silke gab und Licht und Wärme. Und eine Zukunft.
1
A m 29. November 2011 wölbte sich der azurblaue Himmel eines herrlichen Frühsommertages über Zululand. In der Hauptstadt Ulundi wurden um acht Uhr morgens 26 Grad Celsius gemessen, die Luft war weich und würzig, die Sonne strahlte, und die ekstatisch balzenden Webervögel blinkten wie Goldstücke zwischen saftig grünen Blättern. In München tobte zur selben Zeit ein Schneesturm.
Hector Mthembu hatte sein bescheidenes Haus, das in den Hügeln nördlich von dem Wildreservat Hluhluwe lag, schon vor Sonnenaufgang verlassen und erreichte nun die Mine, zu deren Wachmannschaft er gehörte. Die Luft stand still, es herrschte bereits eine Affenhitze, und er schwitzte wie ein Stier.
Auch Scott MacLean war heiß. Außerdem war er nach einer Nacht im Busch todmüde. Um seine Augen glühten rote, ringförmige Abdrücke, die ihn wie eine exotische Eule aussehen ließen, weil er auf der Suche nach der trächtigen Leopardin stundenlang durch sein Nachtglas gestarrt hatte. Trotz schmerzender Muskeln und brennender Augen war er restlos glücklich.
Im Morgengrauen hatte er die gefleckte Großkatze endlich in einer Felshöhle aufgestöbert und zu seinem Entzücken entdeckt, dass sie vier Junge säugte. Vier prachtvolle, gesunde Kätzchen. Als am längsten dienender Ranger des Wildreservats Hluhluwe würde er seinen Kollegen einen ausgeben müssen. Vierfacher Papa wurde man nicht jeden Tag.
Abgesehen davon hatte er sich vor zwei Tagen wieder mit Kirsty getroffen. Kirsty Collier mit den langen Beinen und der hinreißenden Sanduhr-Figur. Und den schönsten Augen, in die er je geblickt hatte. Wie er nach seiner Zeit auf der Universität, an der sie wie er Biologie und zusätzlich Tiermedizin studiert hatte, überhaupt je den Kontakt zu ihr hatte verlieren können, war ihm heute ein Rätsel. Vielleicht, weil sie sich damals Hals über Kopf in einen anderen verliebt hatte, einen, der ihr mehr bieten konnte als er, und vielleicht auch, weil er sich daraufhin zurückgezogen hatte, um seine Wunden zu lecken.
Erst Monate später hatte ihm ein Freund erzählt, dass der sie hatte sitzen lassen, ohne Vorwarnung, ganz brutal. Aber wie das Leben eben so ist, konnte er es sich damals weder zeitlich noch finanziell leisten, mal eben eintausendfünfhundert Kilometer quer durchs Land zu reisen. Anrufen wollte er sie nicht, weil er nicht wusste,
Weitere Kostenlose Bücher