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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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unansehnliches Mädchen, das sich mit drei anderen eine Wohnung in der Stadt teilte. Sie war genauso lautlos und unbemerkt auf den Campus geschlüpft wie der unheimliche Jack selbst. Was hatte sie hergeführt? Vielleicht ein Drang, der genauso stark und unbändig war wie der ihres Mörders und ebenso unbegreiflich. Vielleicht der Drang nach einer verzweifelten, leidenschaftlichen Romanze mit der warmen Nacht, dem warmen Nebel, dem Geruch des Meeres und dem kalten Messer.
    Das war am dreiundzwanzigsten. Am vierundzwanzigsten gab der Rektor des Colleges bekannt, daß die Semesterferien um eine Woche vorverlegt würden, und wir zerstreuten uns, nicht freudig, sondern wie ängstliche Schafe vor einem Sturm, um den Campus der Polizei und einem düsteren Gespenst zu überlassen.
    Ich hatte meinen eigenen Wagen dabei und nahm sechs Kommilitonen mit, das Gepäck kreuz und quer verstaut. Es war nicht gerade eine angenehme Fahrt, denn wir alle wußten, daß einer von uns der unheimliche Jack sein konnte.
    In jener Nacht fiel das Thermometer auf fünfzehn Grad minus, und der ganze Norden Neuenglands wurde von einem beißenden Wetterumschwung gebeutelt, der mit Schneeregen begann und mit einer tiefen Schneedecke endete. Wie üblich bekamen ein paar Verrückte Herzanfälle beim Schneeschau-feln - und dann war es wie ein Wunder plötzlich April. Reiner Regen und sternenklare Nächte.
    Die Leute nennen es Erdbeerfrühling, und der Himmel weiß, warum. Es ist eine schlimme, eine trügerische Zeit, die nur alle acht bis zehn Jahre einmal vorkommt. Der unheimliche Jack verschwand mit dem Nebel, und Anfang Juni wandte sich das allgemeine Interesse auf dem Campus einer Reihe von Protesten gegen Wehrdienst und einem Sitzstreik zu, der vor dem Gebäude stattfand, in dem ein bekannter Napalmhersteller Einstellungsgespräche abhielt. Das Thema »der unheimliche Jack« wurde einmütig vermieden - zumindest nach außen hin, obwohl ich annehme, daß sich eine ganze Reihe Leute immer und immer wieder insgeheim den Kopf darüber zerbrochen und nach irgendeiner logischen Erklärung für die Morde gesucht haben.
    In jenem Jahr machte ich mein Examen, und im Jahr darauf heiratete ich. Ich bekam eine gute Stellung in einem Zeitungsverlag der Stadt; 1971 bekamen wir einen Sohn, der mittlerweile schon fast im Schulalter ist. Er ist ein intelligentes und wißbegieriger Junge mit meinen Augen und ihrem Mund.
    Und dann das heute morgen in der Zeitung.
    Natürlich wußte ich es. Ich wußte es schon gestern morgen, ab. ich aufstand und das geheimnisvolle Rauschen des Schmelzwassers hörte, das in die Straßenkanalisation lief, und von unserer Veranda aus den salzigen Geruch des Meeres roch, das neun Meilen entfernt ist. Ich wußte, daß wir wieder einmal einen Erdbeerfrühling haben, als ich gestern abend von der Arbeit kam und meine Scheinwerfer einschalten mußte, weil der Nebel schon überall herausgekrochen kam, die Konturen der Gebäude verwischte und die Straßenlaternen mit einem verzauberten Schein umgab.
    Die Zeitung von heute morgen berichtet, daß letzte Nachtauf dem Campus des New Sharon College in der Nähe der Kanonen aus dem Bürgerkrieg ein Mädchen ermordet worden ist.
    Man fand sie in einer schmelzenden Schneewehe. Aber sie war nicht … sie war nicht ganz da.
    Meine Frau ist völlig verstört. Sie will wissen, wo ich letzte Nacht gewesen bin, aber ich kann es ihr nicht sagen, weil ich mich nicht erinnere. Ich weiß nur, daß ich von der Arbeit nach Hause losgefahren bin, und daß ich die Scheinwerfer eingeschaltet habe, um den Weg durch den schönen, kriechenden Nebel zu finden, mehr nicht.
    Ich habe an jenen nebligen Abend denken müssen, als ich an die frische Luft gegangen bin, weil ich Kopfschmerzen hatte und an all den schönen Schatten ohne Form oder Substanz vorbeigekommen bin. Und ich habe an den Kofferraum meines Wagens denken müssen und mich gefragt, warum ich bloß Angst davor habe, ihn aufzumachen.
    Während ich hier sitze und schreibe, kann ich meine Frau im Nebenzimmer weinen hören. Sie denkt, ich sei gestern abend mit einer anderen Frau zusammen gewesen.
    Und, mein Gott, ich glaube, sie hat recht.

Der Mauervorsprung
    »Los doch«, sagte Cressner zum zweiten Mal. »Machen Sie die Tasche auf.«
    Wir saßen in seiner Penthouse-Wohnung im dreiundvierzigsten Stock. Der Raum war mit einem dicken orangefarbenen Veloursteppich ausgelegt. Zwischen dem Stuhl, auf dem Cressner saß, und der Ledercouch, auf der niemand saß,

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