Nachtschicht
Hund, einen Gipsflamingo mit abblätternder Farbe und ein eher unscheinbares blondes Mädchen mit Brille. Ihre Lippen waren zu einem verlegenen Lächeln hochgezogen, und sie blinzelte in die Kamera. Eine Hand lag auf dem Kopf des Hundes. Es stimmte also. Es mußte stimmen.
Auch an jenem Abend kam der Nebel, nicht auf Katzenpfötchen, sondern in einem schweigenden breiten Teppich. Ich ging an jenem Abend spazieren. Ich hatte Kopfschmerzen und wollte ein bißchen frische Luft schnappen, den feuchten, nebligen Geruch des Frühlings riechen, der langsam den hartnäckigen Schnee verschwinden ließ und hier und da kahle Flecken des Rasens vom vergangenen Jahr aufdeckte, wie das Haupt einer seufzenden alten Großmutter.
Für mich war es einer der schönsten Abende, an die ich mich erinnern kann. Die Leute, an denen ich unter dem Schein der Straßenlaternen vorbeikam, waren murmelnde Schatten, und es schienen alles Liebende zu sein, die Hand in Hand gingen und die Blicke ineinander versenkt hatten. Der schmelzende Schnee tropfte und rann, tropfte und rann, und aus den dunklen Kanalisationsrohren trieb das Geräusch der See hinauf, eine dunkle Wintersee, die jetzt stark zurückging.
Ich ging fast bis Mitternacht spazieren, bis ich feucht bis auf die Haut war, und ich kam an vielen Schatten vorbei und hörte viele Schritte wie im Traum über die gewundenen Wege davon-eilen. Wer weiß, ob nicht einer jener Schatten der Mann oder jenes Wesen war, das als der unheimliche Jack bekannt wurde?
Ich jedenfalls weiß es nicht, denn ich kam an vielen Schatten vorbei, aber ich sah in dem Nebel keine Gesichter.
Am nächsten Morgen weckten mich aufgeregte Stimmen draußen auf dem Korridor. Ich benutzte meine zehn Finger als Kamm, fuhr mir mit der haarigen Raupe, die ich jetzt an Stelle meiner Zunge im Mund zu haben schien, über den trockenen Gaumen und torkelte nach draußen, um den Grund für den Aufruhr zu erkunden.
»Er hat wieder zugeschlagen«, erklärte mir jemand, dessen Gesicht vor Aufregung ganz blaß war. »Sie mußten ihn wieder freilassen?«
»Freilassen? Wie? Wen?«
»Amalara!« sagte jemand anders schadenfroh. »Er saß nämlich hinter Gittern, als es passierte.«
»Als - was passierte?« fragte ich geduldig. Früher oder später würde ich es schon erfahren, dessen war ich mir sicher.
»Der Kerl hat letzte Nacht wieder jemanden umgebracht. Und jetzt suchen sie überall danach.«
»Wonach suchen sie?«
Das blasse Gesicht zappelte wieder vor mir. »Nach ihrem Kopf. Wer immer sie getötet hat, hat ihren Kopf mitgenommen.«
New Sharon ist auch heute noch keine große Schule, und damals war sie noch kleiner - die Public-Relations-Leute bezeichnen diese Art von Lehranstalt vertraulich als »Gemeinschafts-College«. Und es war wirklich wie eine kleine Gemeinschaft, zumindest damals; jeder kannte jeden, und sei es auch nur flüchtig. Gale Cerman war eins von den Mädchen gewesen, die man nur flüchtig kannte, und wenn sie einem über den Weg lief, dann erinnerte man sich dunkel, sie schonb mal gesehen zu haben.
Ann Bary kannten wir dagegen alle.
Sie war zweite im Miss-New-England-Wettbewerb im Vorjahr geworden, und ihre Talentprobe hatte darin bestanden, daß sie einen Leuchtstab zur Melodie von »Hey, Look Me Over« herumwirbelte. Aber sie war auch intelligent; bis zu ihrem Tod war sie Herausgeberin der Studentenzeitung gewesen (ein Blatt mit einer Menge politischer Cartoons und hochtrabenden Briefen, das einmal in der Woche erschien), Mitglied der studentischen Theatergemeinschaft und Präsidentin der Nationalen Studentinnenverbindung, Zweig New Sharon. Mit dem überschäumenden, fanatischen Eifer des Erstsemestlers hatte ich einen Artikel für die Zeitung eingereicht und sie um ein Rendezvous gebeten - und hatte sowohl bei dem einen wie bei dem anderen einen Korb bekommen.
Und jetzt war sie tot … noch schlimmer als tot.
Ich ging wie jeder andere zum Nachmittagsunterricht, nickte den Leuten zu, die ich kannte und sagte »hi« mit ein bißchen mehr Nachdruck als sonst, als ob ich damit die eindringliche Musterung entschuldigen konnte, der ich ihre Gesichter unterzog. Dabei sahen sie mich genauso prüfend an wie ich sie. Es war jemand unter uns, der dunkel war, so dunkel wie die Wege, die sich durch das Campusgelände und durch die hundertjährigen Eichen hinter der Turnhalle schlängelten. So dunkel wie die mächtigen Kanonen aus dem Bürgerkrieg durch einen treibenden Nebelfetzen schimmerten. Einer blickte
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