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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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und wo wir nicht so bekannt waren, um einen Einspänner zu mieten. Er war einverstanden, und ich sah ihm nach, wie er über die Küstenstraße davonging. Als er außer Sicht war,; machte ich mich rasch fertig, zog Mantel und Schal über (denn das Wetter war frostig geworden; in der scharfen Brise jenes Morgens lag der erste Hauch des bevorstehenden Winters). Für einen kurzen Augenblick wünschte ich mir, jetzt ein Gewehr zu haben, doch dann mußte ich über meinen Wunsch lachen. Was nützt schon ein Gewehr in einer solchen Sache?
    Ich verließ das Haus durch die Vorratskammer. Draußen blieb ich noch einmal stehen, um einen letzten Blick auf das Meer und den Himmel zu werfen; um noch einmal frische Luft anzuatmen, denn schon sehr bald würde sie von jenem gräßlichen Gestank abgelöst werden; um eine Möwe zu betrachten, die suchend unter den Wolken kreiste.
    Ich drehte mich um - und sah mich Calvin McCann gegenüber.
    »Sie gehen nicht allein«, sagte er, und ich habe sein Gesicht noch nie so entschlossen gesehen wie in diesem Moment.
    »Aber Calvin —« begann ich.
    »Nein, kein Wort mehr! Wir gehen zusammen und tun zusammen, was getan werden muß, oder ich bringe Sie mit Gewalt ins Haus zurück. Sie sind nicht gesund, und Sie dürfen nicht allein gehen.«
    Ich kann unmöglich den Widerstreit der Gefühle beschreiben, die sich meiner bemächtigten: Verwirrung, Verstimmung, Dankbarkeit - doch das stärkste von allen war Liebe.
    Schweigend machten wir uns auf den Weg, vorbei an dem Gartenhaus und der Sonnenuhr und über die überwucherte Grenze des Besitzes in den Wald hinein. Alles war totenstill - kein einziger Vogel sang, und nicht einmal eine Waldgrille zirpte. Die Welt schien in einen Mantel des Schweigens gehüllt zu sein. Da war nur der allgegenwärtige Geruch nach Salz und «in ferner, schwacher Geruch nach Holzrauch. Der Wald war eine Schwelgerei in leuchtenden Farben, doch für mich schien Scharlachrot alles andere zu überdecken.
    Bald war der Geruch nach Salz verschwunden, und seine Stelle nahm ein anderer, bedrohlicherer Geruch ein; jener Geruch der Fäulnis, den ich schon erwähnte. Als wir den Steg erreichten, der über den Royal führt, wartete ich darauf, daß Cal erneut versuchen würde, mir mein Vorhaben auszureden, doch er sagte nichts. Er blieb stehen, blickte auf jenen düsteren Kirchturm, der dem blauen Himmel über ihm zu spotten schien und dann auf mich. Wir setzten unseren Weg fort.
    Mit raschen, aber angsterfüllten Schritten näherten wir uns James Boons Kirche. Die Tür stand von unserem letzten Besuch noch ein Stück offen, und dahinter gähnte tiefe Finsternis. Als wir die Stufen hinaufstiegen, hatte ich das Gefühl, als würde mein Herz schwer wie Blei; meine Hand zitterte, als ich die Hand nach dem Griff ausstreckte und die Tür aufzog. Der Geruch, der uns aus dem Innern entgegenströmte, war intensiver und übler als je zuvor.
    Wir betraten den dämmrigen Vorraum .und begaben uns ohne zu zögern in den Hauptraum.
    Ein Bild der Verwüstung bot sich uns.
    Irgend etwas Gewaltiges war hier an der Arbeit gewesen und hatte wild gewütet. Kirchenstühle waren umgestürzt und wie Mikadostäbchen übereinandergeworfen worden. Das unselige Kreuz lag an der Ostwand, und ein gezacktes Loch im Putz zeugte von der Gewalt, mit der es durch die Luft geschleudert worden war. Die Öllampen waren heruntergerissen worden, und der Geruch nach Walöl vermischte sich mit jenem schrecklichen Gestank, der über dem Dorf lag. Und den Mittelgang hinunter lief, wie ein gespenstischer Hochzeitsteppich, eine schwarze Schleimspur, die von dunklen Blutfäden durchzogen war. Unsere Augen folgten ihr bis zur Kanzel - soweit wir sehen konnten, war sie allein von der Zerstörung ausgenom-men worden. Auf ihr lag der Körper eines geschlachteten Lamms, das uns über jenes gotteslästerliche Buch hinweg aus glasigen Augen anstarrte.
    »Mein Gott«, flüsterte Calvin.
    Wir traten näher, wobei wir vermieden, mit dem Schleim auf dem Boden in Berührung zu kommen. Die Wände warfen das Geräusch unserer Schritte zurück und schienen sie in ein gigantisches Gelächter zu verwandeln.
    Gemeinsam stiegen wir die Kanzel hinauf. Das Lamm war nicht aufgerissen und auch nicht angefressen; es sah eher so aus, als sei es so lange gedrückt worden, bis seine Adern gewaltsam geplatzt waren. Blut lag in dicken und ekelhaften Pfützen auf dem Pult selbst und an seinem Fuß … doch wo es auf dem Buch lag, war es durchsichtig, und

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