Nachtschicht
Baumwollhose und einem weißen T-Shirt, wirft ihn zurück. Er hat ein kleines rotes Muttermal am Kinn.
Die Mauern des Durchgangs beginnen zu zittern. Die Eisenträger fangen eine dröhnende Vibration auf. Ein Zug naht.
Jemand schlägt dir die Bücher aus der Hand, und der Junge mit dem Muttermal am Kinn tritt sie in den Rinnstein. Waynes rechter Fuß schießt plötzlich vor und trifft den Jungen mit dem zuckenden Lid zwischen den Beinen. Der schreit auf.
Vinnie, er haut ab!
Der Junge mit dem zuckenden Gesicht schreit wie verrückt, aber sein Geheul geht im ansteigenden, ohrenbetäubenden Donnern des herannahenden Zugs unter. Dann ist er über ihnen, und die Welt ist erfüllt von seinem Lärm.
Springmesser blitzen im Licht auf. Der Junge mit dem blonden Bürstenhaar hat eins, Muttermal das andere. Du kannst nicht hören, was Jim schreit, aber du liest die Worte von seinen Lippen ab:
Lauf, Jimmy, lauf.
Du läßt dich auf die Knie fallen, und die Hände, die dich festhalten, sind auf einmal weg. Wie ein Frosch schlüpfst du zwischen einem Paar Beinen hindurch. Eine Hand rutscht über deinen Rücken, versucht, dich festzuhalten, aber es gelingt ihr nicht. Und dann rennst du den Weg zurück, den ihr gekommen seid, mit der ganzen furchtbaren, zähen Langsamkeit der Träume. Du schaust zurück und siehst -
Er erwachte in der Dunkelheit. Sally schlief friedlich neben ihm. Er biß die Zähne zusammen, um den aufkommenden Schrei zu unterdrücken, und als er ihn erstickt hatte, ließ er sich zurückfallen.
Als er zurückgeschaut hatte, zurück in die gähnende Dunkelheit des Viadukts, hatte er gesehen, wie der blonde Junge und Muttermal ihre Messer in den Körper seines Bruders stießen - Blondie direkt unterhalb des Brustbeins und Muttermal genau in die Leisten seines Bruders.
Heftig atmend lag Jim wach im Dunkeln und wartete darauf, daß dieses neun Jahre alte Gespenst wich, wartete auf einen ruhigen Schlaf, der alles andere auslöschte.
Und irgendwann später kam der Schlaf.
In den Schulen der Stadt wurden die Weihnachtsferien und die Semesterpause zusammengefaßt, und die Ferien dauerten so fast einen Monat. Der Traum kam zweimal wieder, ganz am Anfang, und danach nicht mehr. Er und Sally besuchten ihre Schwester in Vermont, wo sie sehr viel Ski liefen. Sie waren glücklich.
Jims Leben-mit-Lit-Problem schien draußen, in der kristallklaren Luft, belanglos und ein bißchen albern. Mit einer Win-terbräune und ruhig und gesammelt kehrte Jim in den Schulalltag zurück.
Simmons hielt ihn auf dem Weg zu seiner zweiten Stunde an und reichte ihm einen Schnellhefter.
»Ein neuer Schüler, siebte Stunde. Heißt Robert Lawson. Neu zugezogen.«
»Hey, ich habe doch schon siebenundzwanzig, Sim. Der Kurs ist so schon überfüllt.«
»Es bleibt trotzdem bei siebenundzwanzig. Bill Stearns ist am Dienstag nach Weihnachten gestorben. Autounfall mit Fahrerflucht.«
Das Bild formte sich vor seinen Augen wie eine Schwarz-weißaufnahme. William Stearns, einer der wenigen guten Schüler in Leben mit Lit. Ruhig, gleichmäßig gute Noten in seinen Prüfungen. Meldete sich nicht oft, wußte aber gewöhnlich die richtigen Antworten (durchsetzt mit einem angenehmen, trockenen Humor), wenn er aufgerufen wurde. Tot? Mit fünfzehn Jahren. Seine eigene Sterblichkeit wisperte plötzlich durch seinen Körper wie ein kalter Luftzug unter einer Tür.
»Mein Gott, wie schrecklich. Weiß man schon, wie es genau passiert ist?«
»Die Polizei kümmert sich um den Fall. Er war in der Stadt, um ein Weihnachtsgeschenk umzutauschen. Als er die Ram-part Street überqueren wollte, wurde er von einer alten Fordlimousine überfahren. Das Kennzeichen hat sich niemand gemerkt; man weiß nur, daß auf einer Tür ›Klapperschlange‹ stand … wie es ein Jugendlicher auf seinen Wagen schreiben würde.«
»Mein Gott«, sagte Jim noch einmal.
»Es klingelt«, unterbrach ihn Simmons.
Er eilte davon und blieb noch einmal kurz stehen, um eine Gruppe von Schülern, die um einen Trinkbrunnen standen, in ihre Klassen zu schicken. Mit einem Gefühl der Leere begab sich Jim in seine eigene Klasse.
In seiner Freistunde beschäftigte er sich mit Robert Lawsons Akte. Die erste Seite war ein grünes Blatt von der Milford High School, von der Jim noch nie etwas gehört hatte. Das zweite war ein Persönlichkeitsdiagramm. IQ von 78. Ein paar manuelle Fähigkeiten, aber nicht viele. Aggressive, abweisende Antworten auf den Barnett-Hudson-Persönlichkeitstest.
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