Nachtschicht
Schlechte Ergebnisse bei der Eignungsprüfung. Ein durch und durch typischer Schüler für Leben mit Lit, dachte Jim mißmutig.
Die nächste Seite war ein Führungszeugnis, das gelbe Blatt.
Das Milfordblatt war weiß mit einem schwarzen Rand und erschreckend voll. Lawson hatte schon in unzähligen Schwierigkeiten gesteckt.
Jim blätterte um, warf einen flüchtigen Blick auf das Schulphoto von Robert Lawson und sah noch einmal hin. Entsetzen kroch plötzlich in seine Magengrube und rollte sich dort zusammen, warm und zischend.
Lawson starrte so feindselig in die Kamera, als säße er Modell für ein Polizeiphoto für die Verbrecherkartei und nicht für ein Schulphoto. Auf seinem Kinn war ein kleines rotes Muttermal.
Bis zur siebten Stunde hatte Jim alles herangezogen, was es an vernünftigen und logischen Überlegungen gab. Er sagte sich, daß es Tausende von Jungen mit einem roten Muttermal am Kinn geben mußte. Er sagte sich, daß jener Halbstarke, der seinen Bruder damals, vor sechzehn Jahren, erstochen hatte, heute mindestens zweiunddreißig sein mußte.
Doch seine dunklen Vorahnungen wollten sich nicht zerstreuen lassen, als er die Stufen zum zweiten Stock hinaufstieg.
Und noch ein anderer angstvoller Gedanke bemächtigte sich seiner: Genauso hast du dich damals gefühlt, als du den Nervenzusammenbruch bekommen hast. Der beißende Geschmack der Panik lag in seinem Mund. Vor der Tür zu Raum 23 trieben sich wie üblich eine Reihe von Schülern herum, von denen einige hineingingen, als sie Jim herankommen sahen. Ein paar aber ließen sich nicht stören und flüsterten grinsend miteinander. Er entdeckte den Neuen neben Chip Osway. Robert Lawson trug Blue Jeans und schwere gelbe Traktorstiefel - der letzte Schrei in diesem Jahr.
»Geh rein, Chip.«
»Ist das ein Befehl?« Er grinste ausdruckslos über Jims Kopf hinweg.
»Ja.«
»Haben Sie mich bei diesem Test durchfallen lassen?«
»Ja.«
»Schön, dann können Sie …« Der Rest ging in einem unverständlichen Gemurmel unter.
Jim wandte sich an Robert Lawson. »Du bist also der Neue«, stellte er fest. »Dann will ich dir gleich sagen, wie es bei uns hier so läuft.«
»Natürlich, Mr. Norman.« Seine rechte Augenbraue wurde von einer kleinen Narbe geteilt, eine Narbe, die Jim kannte. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Es war verrückt, völlig verrückt, aber wahr. Dieser Junge hatte vor sechzehn Jahren ein Messer in seinen Bruder gestoßen.
Betäubt und wie aus weiter Ferne hörte er sich die Klassen-ordnung zitieren, während Robert Lawson die Daumen in seinen Armeegürtel hakte, lächelnd zuhörte und dann zu nicken begann, als seien sie alte Freunde.
»Jim?«
»Hmm?«
»Hast du irgend etwas?«
»Nein.«
»Hast du immer noch Probleme mit den Jungen von Leben mit Lif?«
Keine Antwort.
»Jim?«
»Nein.«
»Geh doch heute abend mal früh schlafen.«
Aber er tat es nicht.
In jener Nacht war der Traum besonders schlimm. Als der Junge mit dem roten Muttermal seinen Bruder erstach, rief er Jim nach: »Der nächste bist du, Kleiner. Mitten durch die Hose.«
Er erwachte schreiend.
Das Thema in jener Woche war Herr der Fliegen, und Jim sprach gerade über die Symbolik, als Lawson die Hand hob.
»Robert?« sagte er ruhig.
»Warum starren Sie mich die ganze Zeit so an?«
Jim blinzelte und merkte, wie sein Mund trocken wurde.
»Sehen Sie weiße Mäuse? Oder steht meine Hose auf?«
Die Klasse kicherte nervös.
»Ich habe dich nicht angestarrt«, erwiderte Jim ruhig.
»Kannst du uns sagen, warum sich Ralph und Jack über …«
»Sie haben mich angestarrt.«
»Möchtest du vielleicht mit Mr. Fenton darüber sprechen?«
Lawson schien nachzudenken. »Nö.«
»Gut. Kannst du uns jetzt sagen, warum sich Ralph und Jack …«
»Ich habe das Buch nicht gelesen. Ich finde es blöd und langweilig.«
Jim lächelte gepreßt. »Tatsächlich? Du solltest dir vor Augen halten, daß du nicht nur dein Urteil über das Buch fällst, sondern das Buch auch ein Urteil über dich fällt. Kann mir vielleicht jemand anders sagen, warum sich Jack und Ralph über die Existenz des Untiers gestritten haben?«
Kathy Slavin hob zaghaft die Hand, worauf Lawson sie mit einem zynischen Blick musterte und etwas zu Chip Osway sagte. Den Bewegungen seiner Lippen nach sah es wie »hübsche Titten« aus. Chip nickte.
»Ja, Kathy.«
»Ist es nicht, weil Jack das Untier jagen wollte?«
»Richtig.« Er drehte sich um und fing an, etwas an die Tafel zu schreiben. Im selben
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