Nachtschicht
als hätte er Angst.
Jim war allein; es war zehn nach vier, und der letzte seiner Kollegen war vor einer Stunde gegangen. Er war gerade dabei, einen Stapel Aufsätze aus dem Kurs »Amerikanische Literatur« zu korrigieren.
»Ja, Chip?« fragte er ruhig.
Chip trat von einem Fuß auf den anderen. »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, Mr. Norman?«
»Natürlich. Aber wenn du wegen dieses Tests kommst, kann ich dir gleich sagen, daß du umsonst-«
»Nein, deshalb bin ich nicht hier. Eh, kann ich hier rauchen?«
»Sicher.«
Als er seine Zigarette anzündete, zitterte seine Hand leicht.
Er sagte sicher eine Minute lang nichts, und es schien, als könnte er nicht. Seine Lippen zuckten, die Hände verschränkten sich ineinander, und die Augen verengten sich zu Schlitzen, als suchte ein inneres Ich nach einem Weg, sich auszudrücken.
»Wenn sie’s tun, will ich, daß Sie wissen, daß ich nichts damit zu tun habe!« platzte er schließlich heraus. »Ich mag diese Typen nicht! Sie sind widerlich!«
»Welche Typen, Chip?«
»Lawson und dieser widerliche Garcia.«
»Haben sie etwas mit mir vor?« Das alte Entsetzen, das er aus den Träumen kannte, ergriff wieder von ihm Besitz, und er wußte die Antwort schon im voraus.
»Zuerst habe ich sie gemocht«, erklärte Chip. »Wir sind zusammen losgezogen und haben ein paar Bier getrunken.
Dann habe ich angefangen, über Sie und diesen Test zu meckern. Und daß ich es Ihnen heimzahlen wollte. Aber das habe ich nur so gesagt! Ich schwöre es!«
»Und was war dann?«
»Sie sind sofort darauf angesprungen. Wollten wissen, wann Sie aus der Schule kommen, was für ein Auto Sie fahren und so was. Ich wollte wissen, was die beiden gegen Sie haben, und Garcia hat gesagt, daß sie Sie schon ziemlich lange kennen … hey, ist Ihnen nicht gut?«
»Die Zigarette«, entgegnete Jim heiser. »Ich kann mich einfach nicht an den Rauch gewöhnen.«
Chip drückte sie aus. »Ich habe sie gefragt, seit wann sie Sie kennen, und Bob Lawson hat gemeint, daß ich mir damals noch in die Hosen gemacht hätte. Aber sie sind siebzehn, genauso alt wie ich.«
»Und dann?«
»Also, dann hat sich Garcia über den Tisch zu mir herüberge-beugt und gemeint, daß ich mich bestimmt nicht richtig schlimm an Ihnen rächen könnte, wenn ich nicht wüßte, wann Sie aus der verdammten Schule kommen. Das hat er gesagt.
Und was ich denn vorhätte. Ich habe gesagt, daß ich Ihnen die Reifen kaputt stechen wollte, damit Sie dann mit vier platten Reifen dastehen.« Er sah Jim bittend an. »Ich hätte es nie im Leben getan. Ich habe es nur gesagt, weil ich …«
»Weil du Angst hattest?« unterbrach ihn Jim ruhig.
»Ja, und ich habe noch immer Angst.«
»Was sagten sie zu deinem Plan?«
Chip zog die Schultern zusammen. »Bob Lawson hat gesagt:
›Das ist alles? Mehr Phantasie hast du nicht, du Jammerlappen?‹ Ich habe versucht, mich nicht einschüchtern zu lassen, und sie gefragt, was sie denn mit Ihnen anstellen würden.
Dann hat Garcias Auge angefangen zu zucken, und er hat etwas aus seiner Tasche geholt. Dann hat er es aufschnappen lassen, und ich habe gesehen, daß es ein Springmesser war. Da bin ich abgehauen.«
»Wann ist das gewesen, Chip?«
»Gestern. Ich habe Angst, neben diesen Kerlen zu sitzen, Mr. Norman.«
»Okay. Schon gut.« Jim starrte auf die Seiten, die er gerade korrigiert hatte, ohne sie wirklich zu sehen.
»Was wollen Sie jetzt tun?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.«
Am Montagmorgen wußte er es immer noch nicht. Sein erster Gedanke war gewesen, Sally alles zu erzählen, angefangen mit der Ermordung seines Bruders vor sechzehn Jahren. Aber es war unmöglich. Sie hätte sich zwar bemüht, ihn zu verstehen, aber sie wäre wahrscheinlich nur erschrocken gewesen und hätte ihm nicht geglaubt.
Simmons? Auch das war unmöglich. Simmons würde ihn für verrückt halten. Und vielleicht war er das sogar. Bei der Gruppentherapie, an der er damals teilgenommen hatte, hatte einmal ein Mann gesagt, daß ein Nervenzusammenbruch so ähnlich sei, als wenn man eine Vase zerbricht und sie dann wieder zusammenklebt. Sie sei dann nicht mehr so wie früher, denn man müsse jetzt viel vorsichtiger mit ihr umgehen. Man könnte keine Blume mehr hineinstellen, denn Blumen brauchen Wasser, und Wasser könnte den Leim auflösen.
Bin ich tatsächlich verrückt?
Wenn er es war, dann war Chip Osway es auch. Dieser Gedanke kam ihm, als er in seinen Wagen stieg, und eine Welle
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