Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
meinte den Schützen.
Dabei bewegte er vorsichtig seine Finger. Es war doch nichts
gebrochen; ein Stein hatte ihm lediglich den Daumen gequetscht. Am meisten ärgerte ihn, dass er seine Schrotflinte verloren hatte. Und die Wut auf die Frauen hatte ebenfalls mächtig zugenommen.
Sie kauerten hinter einem Felsblock am Fuß des Simses. Hart hörte mit dem Gerät des toten Deputy den Polizeifunk ab. Die Suchtrupps gaben Routinemeldungen durch. Niemand hatte die Schüsse auch nur gehört. Und nichts deutete auf weitere Cops in der näheren Umgebung hin.
»Ich möchte wetten, das sind andere Meth-Leute, die zu dem Wohnmobil wollen.« Hart schaltete sein GPS ein. Er musste seinen Zorn im Zaum halten. Die Beute war so nah. Doch sie konnten den Frauen nicht folgen; der einzige Weg führte über das Sims, und dort würden sie leichte Ziele abgeben.
»Wir gehen links herum durch den Wald. Das ist zwar die längere Strecke, aber wir haben bis zum Highway gute Deckung.«
»Wie spät ist es?«, fragte Lewis.
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Ich will bloß wissen, wie lange wir uns schon mit dieser Scheiße herumschlagen.«
»Viel zu lange«, sagte Hart.
74
James Jasons hielt die Bushmaster, Kaliber 223, im Arm und musterte die Felswand, die er soeben beschossen hatte. Er hatte sein Bestes gegeben; immerhin gab es so gut wie kein Licht, und er war mehr als zweihundert Meter vom Ziel entfernt.
Er wartete und suchte mit seinem Nachtsichtgerät das Gelände ab, aber weder von den Männern noch von den Frauen war irgendwo eine Spur zu entdecken. Es hätte ihn interessiert, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass die Männer in diesen vorsintflutlichen Hagel aus Steinen und Baumstämmen geraten waren.
Zehn Minuten lang beobachtete er die Lichtung und den umliegenden Wald.
Wo steckten sie?
Die Männer waren das Felssims hinuntergelaufen. Da sie anscheinend ihr Fahrzeug eingebüßt hatten, würden sie zur Interstate wollen, um sich einen fahrbaren Untersatz zu organisieren. Doch um vom Sims zur Straße zu gelangen, gab es viele verschiedene Routen. Nur die ungefähre Richtung stand fest. Das Gelände war dicht bewachsen, aber Jasons konnte die Männer vermutlich aufspüren. Allerdings konnten sie den Hügel auch auf der anderen Seite umrundet und wieder die Verfolgung der Frauen aufgenommen haben. Es schien ein sehr viel steilerer Aufstieg zu sein, noch dazu mit nur wenig Deckung, aber wer weiß? Vielleicht waren die Männer so sauer über den Hinterhalt, dass sie ihre Beute unbedingt sofort zur Strecke bringen wollten.
Dennoch wollte Jasons nicht übereilt handeln. Er musterte das ferne Unterholz. Viele der Zweige bewegten sich, aber das schien am Wind zu liegen, nicht an irgendwelchen fliehenden Personen.
Noch etwas anderes bewegte sich. Jasons keuchte überrascht auf und stellte das Nachtsichtgerät scharf. Es war irgendein wildes Tier, ein Kojote oder Wolf. Der Restlichtverstärker bildete es in gespenstisch grüngrauer Farbe ab. Es hatte ein schmales Gesicht, und hinter den hochgezogenen Lefzen schimmerten weiße, perfekte Zähne. Jasons war froh, so weit entfernt von dem Tier zu sein. Es war prächtig anzusehen, aber bestimmt gefährlich.
Nun hob es den Kopf, nahm irgendeine Witterung auf und war im nächsten Moment verschwunden.
Ich bin wirklich weit weg von zu Hause, dachte James Jasons. Er würde Robert eine gekürzte Fassung der Geschichte erzählen, in der das Tier vorkam. Die Schüsse natürlich nicht.
Er suchte weiter das nahe Feld und den Wald ab, konnte Emma Feldmans Mörder aber nirgendwo entdecken. Vielleicht waren sie trotzdem da, doch das ließ sich bei dieser dichten Vegetation unmöglich sagen.
Und was war mit Graham und dem Deputy?
Der Schuss, den er gehört hatte, bevor die Killer bei dem Felssims aufgetaucht waren, ließ auf ihr wahrscheinliches Schicksal schließen. Zu schade, aber man darf sich von so etwas nicht beeinflussen lassen. Sonst bringt man sich selbst noch um Kopf und Kragen.
Jasons wartete weitere zehn Minuten ab und beschloss dann, dass es an der Zeit sei, zur Interstate zurückzukehren. Er hängte sich die Segeltuchtasche über die Schulter und verschmolz mit dem Wald, ohne das Gewehr zuvor wieder in seine Einzelteile zu zerlegen.
75
Sie folgten dem Rand der Schlucht in Richtung der Interstate. Weit unter ihnen brauste der Snake River durch sein felsiges Bett.
Brynn wagte es nicht, nach rechts zu schauen, wo die Welt nach drei Metern an einer steilen Klippe endete.
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