Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
nämlich Informationen zu sammeln, und es war Zeit, sich an die Arbeit zu machen.
»Wo sind mein Sohn und meine Tochter?«, verlangte Michelle - selbstsicher wie immer - zu wissen.
»Die sind in guten Händen.«
»Brynn, bitte … Die beiden brauchen mich. Ohne mich drehen sie durch. Wirklich, das ist ein großes Problem.«
»Sie haben Ihren Sohn zum Harborside Inn mitgenommen, damit er Ihnen hilft, mich zu ermorden?« Brynns Stimme konnte ihr Befremden nicht ganz verbergen.
Michelle verzog empört das Gesicht. »Nein, nein. Wir wollten bloß mit Ihnen reden. Ich wollte mich entschuldigen.«
»Er ist sieben Jahre alt. Und Sie haben ihn mitgenommen. Obwohl Sie bewaffnet waren.«
»Die Pistole habe ich nur zu meinem Schutz. Milwaukee ist ein gefährliches Pflaster. Ich besitze einen Waffenschein, konnte ihn aber gerade nicht finden.«
Brynn nickte mit ausdrucksloser Miene. »Okay.«
»Kann ich Brad sehen? Ohne mich ist er unglücklich. Er könnte krank werden. Er hat meinen niedrigen Blutzucker geerbt.«
»Wurde er denn nicht adoptiert?«
Michelle sah sie verständnislos an. »Er braucht mich«, sagte sie dann.
»Man kümmert sich um ihn. Es geht ihm gut … Also,
Sie wurden verhaftet wegen Mordes, versuchten Mordes und Körperverletzung. Man hat Sie über Ihre Rechte belehrt. Sie können dieses Verhör jederzeit abbrechen und einen Anwalt verlangen. Verstehen Sie, was ich sage?«
Michelle warf einen Blick auf das rote Lämpchen der Videokamera. »Ja.«
»Möchten Sie, dass ein Anwalt zugegen ist?«
»Nein, ich werde mit Ihnen reden, Brynn.« Sie lachte auf. »Nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben … da sind wir doch praktisch wie Schwestern, fühlen Sie das denn nicht auch? Ich habe mich Ihnen anvertraut, Sie haben mir von Ihren Problemen zu Hause erzählt.« Sie lächelte freundlich in die Kamera. »Von Ihrem Sohn, Ihrem Mann … Wir sind Seelenverwandte. So etwas kommt ziemlich selten vor, Brynn. Ehrlich.«
»Sie verzichten demnach auf einen Anwalt?«
»Ganz recht. Das hier ist ein Missverständnis. Ich kann alles erklären.« Ihre Stimme war verhalten und spiegelte die Bürde des großen Unrechts wider, das ihr angetan wurde.
»Also, kommen wir auf den Anlass dieser Unterredung zu sprechen«, sagte Brynn. »Wir möchten, dass Sie uns wahrheitsgemäß schildern, was sich an jenem Abend zugetragen hat. Sie machen es sich dadurch nicht nur selbst leichter, sondern auch Ihrer Familie …«
»Was soll das heißen?«, unterbrach Michelle sie barsch. »Haben Sie etwa mit meinen Angehörigen gesprochen? Meinen Eltern?«
»Ja.«
»Dazu hatten Sie kein Recht.« Dann beruhigte sie sich und lächelte gekränkt. »Warum haben Sie das getan? Diese Leute hassen mich. Was auch immer sie gesagt haben, es war gelogen. Die sind eifersüchtig auf mich. Ich war von Anfang an auf mich selbst gestellt. Aber ich habe mein Leben erfolgreich gemeistert. Meine Eltern sind Versager.«
Brynns Nachforschungen hatten ergeben, dass die Vorgeschichte dieser Frau normal und stabil wirkte und damit im krassen Gegensatz zu ihrer Persönlichkeit stand. Michelle war in einer Mittelstandsfamilie in Madison, Wisconsin, aufgewachsen. Ihre Eltern wohnten immer noch dort; die Mutter war siebenundfünfzig, der Vater zehn Jahre älter. Laut ihren Angaben hatten sie sich nach Kräften, aber letztlich erfolglos um ihre Tochter bemüht. Michelles Mutter nannte sie ein »rachsüchtiges kleines Miststück«. Der Vater bezeichnete sie als »gefährlich«.
Die Eltern waren zwar entsetzt über die Taten, die ihrer Tochter zur Last gelegt wurden, aber nicht allzu überrascht. Sie erklärten, Michelle habe ihr Leben damit zugebracht, von Mann zu Mann zu wechseln - und zweimal auch zu einer Frau -, sich von den Leuten aushalten zu lassen, dann immer aggressiver zu werden und ihre Liebhaber durch ihr blindwütiges, gehässiges Verhalten in Angst und Schrecken zu versetzen, sodass die Betroffenen am Ende froh waren, sie loszuwerden. Michelle zog dann stets zum nächsten Partner weiter - jedenfalls sofern es ihr gelungen war, rechtzeitig zuvor ein neues Opfer zu finden. Man hatte sie zweimal wegen Körperverletzung verhaftet - weil sie auf Männer losgegangen war, die mit ihr Schluss gemacht hatten. Und sie hatte einige Männer durch Stalking belästigt, weshalb gegen sie drei Unterlassungsverfügungen vorlagen.
»Sie dürfen nichts auf das geben, was meine Familie behauptet«, sagte Michelle nun. »Wissen Sie, ich wurde
Weitere Kostenlose Bücher