Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
missbraucht.«
»Dazu existieren keinerlei Unterlagen.«
»Wie auch? Glauben Sie etwa, mein Vater würde das je zugeben? Und meine Anzeige ist im Papierkorb gelandet. Mein Vater und der örtliche Polizeichef haben unter einer Decke gesteckt. Ich musste fliehen und mich ganz allein durchschlagen. Das war schwer, so unglaublich schwer. Niemand hat mir je geholfen.«
»Falls Sie kooperieren, wird es einfacher«, fuhr Brynn fort und ignorierte die rührselige Geschichte der Frau. »Es gibt nach wie vor einige Dinge, die wir gern wissen möchten.«
»Ich wollte Ihnen nichts tun«, jammerte Michelle. »Ich wollte bloß reden.«
»Sie haben sich als die Hoteldirektorin ausgegeben. Und Sie haben Ihre Stimme verstellt, um wie eine Latina zu klingen.«
»Weil Sie es nicht verstanden hätten. Niemand versteht mich. Falls ich mich einfach so gemeldet hätte, wäre ich sofort verhaftet worden und hätte nie die Gelegenheit gehabt, Ihnen alles zu erklären. Sie müssen es verstehen, Brynn. Das ist mir sehr wichtig.«
»Sie waren bewaffnet.«
»Diese Männer bei dem Haus … die haben versucht, mich zu ermorden! Ich hatte Angst. Ich bin schon häufig das Opfer von Übergriffen gewesen. Mein Vater, einige meiner Freunde. Ich musste sie gerichtlich auf Abstand halten.«
Sie hatte gegen mehrere ihrer Liebhaber Anzeige wegen häuslicher Gewalt erstattet, doch es war nie zu einer Anklage gekommen, weil die Männer in jedem der Fälle stichhaltige Alibis vorweisen konnten und die Polizei zu dem Schluss gelangte, die Vorwürfe basierten auf reiner Bosheit.
»Es bestehen drei Verfügungen gegen Sie.«
Sie lächelte. »So funktioniert das System. Man glaubt dem Täter, nicht dem Opfer.«
»Lassen Sie uns über den Abend des siebzehnten April reden.«
»Oh, das kann ich erklären.«
»Bitte.«
»Ich hatte einen Termin mit Steven Feldman, dem Sozialarbeiter, weil ich der Meinung war, Brad sei von einem seiner Lehrer sexuell belästigt worden.«
»Okay. Gibt es dazu irgendein Protokoll?«
»Nein, darum sollte es bei dem Treffen ja gehen. Ich habe
mir den Nachmittag freigenommen und bin zu ihm gefahren, aber es gab ein Problem mit den Bussen, und als ich endlich in seinem Büro eingetroffen bin, war er schon weg. Aber die Sache war wichtig, und ich habe herausgefunden, dass er zu seinem Ferienhaus am Lake Mondac wollte. Er sagte, ich könne jederzeit wegen Brad vorbeikommen, und hat mir die Adresse gegeben. Also habe ich meinen Bekannten, Hart, gebeten, mich hinzufahren. Das war ein Fehler.« Sie schüttelte den Kopf.
»Wie lautet sein vollständiger Name?«
»Den kenne ich nicht. Alle nennen ihn bloß Hart. Wie dem auch sei, er hat seinen Freund mitgebracht, diesen widerlichen Compton Lewis. Furchtbar. Spätestens da hätte ich mich weigern müssen. Aber ich wollte unbedingt mit Steven sprechen. Also sind wir gemeinsam zu dem Haus gefahren. Ich könnte mit Steven reden, und dann würden wir den Rückweg antreten. Doch unterwegs haben die beiden immer verrückteres Zeug gefaselt. So was wie: ›Ich möchte wetten, da gibt’s ganz schön was abzuräumen.‹ Und: ›Wer da wohnt, muss echt Kohle haben. ‹ Und als wir dann auf das Grundstück eingebogen sind und die beiden den Mercedes gesehen haben, haben sie plötzlich Kanonen gezogen, und ich dachte: Scheiße, o nein. Die beiden sind reingegangen und haben angefangen zu schießen. Ich habe versucht, sie aufzuhalten. Ich habe mir diese Pistole geschnappt …«
»Die kompakte Glock in Ihrem Besitz wurde auf einer Waffenmesse gestohlen, keinen Kilometer von dem Haus entfernt, in dem Sie mit Sam Rolfe gewohnt haben.«
»Es war deren Waffe!« Michelle schlug die Hände vor das Gesicht und brach in Tränen aus - oder tat zumindest so.
»Möchten Sie einen Kaffee? Eine Limonade?«
Ein paar Kekse für deinen niedrigen Blutzuckerspiegel … wie die, mit denen du eine Spur für Hart und seinen Partner gelegt hast? Brynns Gesicht ließ keine Regung erkennen.
Michelle blickte auf. Die Augen rot, die Wangen trocken.
So hatte sie auch während des größten Teils jener Aprilnacht ausgesehen.
Eigentlich bin ich Schauspielerin …
O Mann, was ich ihr alles abgekauft habe.
»Ich war total entsetzt«, fuhr Michelle fort. »Ich konnte kaum atmen, so fertig war ich. Es war alles meine Schuld. Ich hatte diese Männer dorthin gebracht. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie elend ich mich gefühlt habe … Ich bin in Panik geraten. Sicher, ich hab ein wenig gelogen. Aber wer würde das
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