Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
Parkplatz war halb belegt. Es war siebzehn Uhr. Brynn McKenzie würde in etwa einer halben Stunde eintreffen.
»Hoffentlich.«
»Was, Mommy?«
»Psst.«
Sie drehte eine weitere Runde und hielt dann am Straßenrand an, etwa sechs Meter vom Parkplatz entfernt. »Hör jetzt
gut zu. Wenn die Frau hier ankommt, wird sie mit ihrem Auto irgendwo da drüben parken. Siehst du? … Gut. Dann steigen du und ich aus. Ich gehe da entlang, hinten herum. Du gehst direkt zu ihr und klopfst an das Fenster neben ihr. Sag ihr, du hättest dich verlaufen. Und du hättest Angst. Sie wird aussteigen. Was sagst du zu ihr?«
»Ich hab mich verlaufen.«
»Und?«
»Ich hab Angst.«
»Und wie siehst du dabei aus?«
»Ängstlich.«
»Gut.« Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und zerzauste sein Haar. »Dann kommt Mommy hinzu und … redet kurz mit ihr. Danach laufen wir beide zurück zu unserem Auto und fahren zu Sam nach Hause. Magst du Sam?«
»Ja, er ist witzig.«
»Magst du ihn mehr, als du deine Mommy magst?«
Sein Zögern war wie ein heißes Eisen, das ihr jemand auf die Haut drückte. »Nein.«
Michelle schob die Eifersucht so weit wie möglich beiseite. Sie musste sich jetzt konzentrieren.
Ihr Blick schweifte in die Runde. Es fuhren einige Wagen vorbei, auf der anderen Straßenseite kam ein Gast aus einem Lokal, und ein Rentner schlenderte über den Gehweg. Davon abgesehen war hier nichts los.
»Nun sei still. Und mach das Radio aus.«
Ihr Telefon summte. Sie las die SMS und runzelte die Stirn. Die Nachricht stammte von einem Freund in Milwaukee und war ernüchternd. Der Mann hatte vor etwa zwanzig Minuten erfahren, dass Gordon Potts in Eau Claire ums Leben gekommen war.
Bei irrem Unfall , stand da.
Michelles Züge verhärteten sich. Unfall, von wegen! Das war Harts Werk. Doch die Nachricht hatte auch etwas Positives.
Michelle hatte sich hier in Milwaukee kaum vor die Tür getraut, solange Hart noch am Leben war. Sie wusste nun, dass er sich wenigstens zurzeit nicht in der Stadt aufhielt.
Gott oder das Schicksal waren ihr hold.
Dann bog pünktlich auf die Minute der Streifenwagen des Kennesha County Sheriff’s Department auf den Parkplatz des Harborside Inn ein. Michelles Hände wurden feucht.
Gott oder Schicksal …
»Okay, Brad.« Michelle öffnete die Zentralverriegelung und stieg mit ihrem Sohn aus. »Mommy geht dort herum«, flüsterte sie. »Und dann komme ich von hinten auf die Frau zu. Sieh mich dabei nicht an. Tu so, als wäre ich gar nicht da. Verstanden?«
Er nickte.
»Sieh mich nicht an, wenn ich auf den Wagen zukomme. Sag es.«
»Ich werde dich nicht ansehen.«
»Denn falls du mich ansiehst, wird diese Frau dich mitnehmen und ins Gefängnis sperren. Sie ist so jemand. Ich habe dich sehr lieb und möchte nicht, dass das geschieht. Deshalb mache ich das hier für dich. Weißt du, wie viel Mühe ich mir mit dir und deiner Schwester gebe?«
»Ja.«
Sie umarmte ihn. »Okay, nun geh zu ihr und sag, was wir besprochen haben. Und vergiss nicht, du musst ängstlich aussehen.«
Der Junge ging auf den Streifenwagen zu. Michelle duckte sich und schlich hinter einer Reihe geparkter Wagen entlang. Sie zog die Glock aus der Tasche ihrer neuen Lederjacke, die Sam Rolfe ihr als Ersatz für ihre Lieblingsjacke gekauft hatte, jenes wunderschöne Exemplar von Neiman Marcus, das bei der Wanderung durch den Wald in jener kalten Aprilnacht total ruiniert worden war.
94
Sheriff Tom Dahl fuhr quer durch Humboldt zu Brynn McKenzies Haus und dachte an ihre Jahre im Department.
Der Job hatte ihr viel abverlangt, vor allem weil sie immer die schlimmsten Fälle übernahm, die Kindesmisshandlungen und häuslichen Gewaltausbrüche. Auch die Kollegen hatten es ihr nicht leicht gemacht, denn sie war von Anfang an begabter und tüchtiger als der Durchschnitt gewesen. Das Mädchen in der ersten Reihe, das immer die Hand hob, weil es jede Antwort wusste. Niemand mochte Streber.
Doch, zum Teufel noch mal, sie war eine Klasse für sich. Man brauchte nur an die Nacht am Lake Mondac zu denken. Dahl kannte keinen anderen Deputy, der sich so kompromisslos durchgebissen hätte.
Und keiner der anderen Deputys hätte überlebt.
Dahl massierte sich das schmerzende Bein.
Er parkte vor dem Haus, das so klein wie alle Häuser hier an der Kendall Road war. Brynn hatte ein sauberes, ordentliches, gepflegtes Heim. Dank Graham war der Garten ein echtes Wunderwerk und hob sich deutlich von den umliegenden Grundstücken ab.
Dahl stieg
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