Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
verstreut gelegen hatten. Hatte Michelle seine Unterlagen - darunter auch die über ihre eigenen Kinder - ins Feuer geworfen?
Bei ihrer Rückkehr zum Lake Mondac nahm Brynn Proben der Asche aus dem Kamin. Dann veranlasste sie das Labor in Gardener mit sanftem Druck zu einer sofortigen Analyse und erfuhr, dass Teile der Asche von braungelber Pappe stammten, wie sie für die Schnellhefter des Sozialamts verwendet wurde. Außerdem lagen im Kamin einige verkohlte Spiralbindungen. Feldman hatte entsprechende Notizblöcke benutzt, wenn er unterwegs war und Leute befragte.
Indem Brynn mit seinen Kollegen und Freunden sprach, die Aufzeichnungen in seinem Büro sichtete und die Verbindungsnachweise seines Telefons kontrollierte, stieß sie auf die Beschwerde der Nachbarn eines Geschäftsmannes namens Samuel
Rolfe. Es ging darum, wie seine neue Freundin ihre kleinen Kinder behandelte.
Der Name der Freundin lautete Michelle Kepler.
Bingo.
Die Polizei von Milwaukee veranlasste daraufhin die Überwachung von Rolfes Haus, aber noch bevor man einen Durchsuchungsbefehl erwirken konnte, erhielt Brynn den Anruf der angeblichen Direktorin des Harborside Inn. Die Sache kam ihr verdächtig vor, und so überprüfte sie nach dem Gespräch die Nummer der Frau. Ein Prepaid-Mobiltelefon.
Brynn war sicher, dass Michelle ihr mit dem Anruf eine Falle stellen und sie ermorden wollte.
Tom Dahl verständigte die Kollegen in Milwaukee. Sie stellten ein Zugriffteam zusammen, um die Frau zu verhaften, sobald sie Rolfes elegantes Haus verließ.
Es blieb nur noch eine Frage: Wollte Brynn die Festnahme persönlich durchführen?
Sie überlegte lange - denn eigentlich wollte sie nichts lieber als das. Aber am Ende entschied sie sich dagegen.
Ein weiblicher Detective des Milwaukee Police Department zog sich eine Uniform des Kennesha County Sheriff’s Department an, setzte sich in den dazugehörigen Streifenwagen und fuhr zu dem Treffen beim Harborside Inn.
Brynn McKenzie hingegen war nach Hause gefahren.
Nun klingelte es wieder an der Tür - Tom Dahl, schicklich wie immer. Joey ließ den Sheriff zurück ins Haus. Grinsend betrat Dahl das Wohnzimmer. »Hör sich das einer an! Wir werden von Reportern überrannt!« Er lachte. »Fox, CBS und natürlich all die Lokalsender. Sogar CNN. Der Bürgermeister fragt sich, ob jeder, der dort arbeitet, blond ist.«
Brynn lachte ebenfalls. »In Atlanta werden die offenbar so gezüchtet.«
»Michelle wird noch heute Abend an uns überstellt«, fuhr der Sheriff fort. »Sie möchten sie verhören, nehme ich an.«
»O ja. Aber nicht mehr heute. Wie gesagt, ich habe schon etwas anderes vor.«
Ist das, was ich jetzt vorhabe, eine gute oder eine schlechte Idee? … Was soll die Frage? Ich hab mich doch sowieso schon entschieden.
Sie hatte getan, was nötig war, um die Mörderin der Feldmans zu fangen; nun war es an der Zeit, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Oder es wenigstens zu versuchen.
Brynn stand auf und begleitete Dahl zur Tür. »Was ist denn heute so wichtig?«, fragte er sie im Hinausgehen.
»Ich koche das Abendessen für Anna und Joey. Und dann schauen wir uns zusammen American Idol an.«
Dahl kicherte. »Das ist eine Wiederholung. Ich kann Ihnen verraten, wer gewinnt.«
»Gute Nacht, Tom. Wir sehen uns morgen früh in alter Frische im Büro.«
96
Es war neun Uhr morgens an einem stürmischen Freitag. Michelle Alison Kepler saß in einem der beiden Verhörzimmer des Kennesha County Sheriff’s Department. Es handelte sich um ehemalige Lagerräume. Man hatte die Regale und Kisten daraus entfernt und schlichte Tische und Plastikstühle hineingestellt. Außerdem gab es eine Videokamera vom Discounter und einen Wandspiegel aus dem Baumarkt, den Letzteren allerdings nur zur Schau. Jeder erfahrene Kriminelle würde erkennen, dass es kein Zweiwegespiegel war, doch in Kennesha County mussten die Strafverfolger eben sparsam sein.
Brynn hatte ihre Pistole abgelegt und war nur mit Kugelschreiber
und Papier bewaffnet. Sie nahm gegenüber von Michelle Platz. Dann musterte sie die Frau, von der sie so skrupellos belogen worden war. Dennoch blieb Brynn seltsam ruhig. Sicher, sie empfand eine gewisse Wut über den Verrat; immerhin hatten sie jene Nacht als Überlebende begonnen, waren dann zu Verbündeten und schließlich zu Freundinnen geworden.
Doch in erster Linie war Kristen Brynn McKenzie natürlich ein Cop und es daher gewohnt, angelogen zu werden. Sie hatte hier eine Aufgabe zu erfüllen,
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