Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
die paar letzten Meter, die ich ihn hatte tragen müssen, hätten mich fast umgebracht.
Außerdem überzog plötzlich Gänsehaut meinen Körper, nachdem das Adrenalin langsam abgebaut war. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich mich die ganze Zeit an eine Leiche geklammert hatte.
Und zu allem Überfluss musste ich ihn noch einmal anfassen, wenn ich erfahren wollte, wer er war.
Der Körper lag mit dem Gesicht im Sand. Als ich ihn gerade herumwälzen wollte, fiel mein Blick auf seinen Hinterkopf, und mir drehte es fast den Magen um.
Ein großer Hautlappen hatte sich gelöst und enthüllte einen sehr weißen Schädelknochen, der offenbar eingedrückt war. Das Meerwasser hatte schon alles Blut weggewaschen, aber das machte den Anblick nur noch schlimmer. Nicht oft wurde man auf so deutliche Weise daran erinnert, dass sich hinter unseren Gesichtern eines dieser weißen Skelette befindet, die wohl in allen Kulturen für Tod und Verfall stehen. Ich glaubte sogar, an der eingedrückten Stelle das Gehirn hervorblitzen zu sehen und hätte mich beinahe übergeben müssen. Kraftlos ließ ich mich wieder in den Sand fallen - wohlweislich mit dem Rücken zu dem Toten - und kämpfte gegen die Wellen der Übelkeit an. Wer er auch war, er war nicht ertrunken. Rund um die Old Sow gab es keine Felszungen, an denen er sich diese Kopfverletzung hätte zuziehen können. Ich spürte einen Anflug der Erleichterung: Wer auch immer hier heute Nacht gestorben war, es war nicht meine Schuld. Das machte ihn zwar auch nicht wieder lebendig, doch ich konnte ein Gefühl der Erleichterung trotzdem nicht unterdrücken.
Dann fiel endlich der Groschen: Tote mit eingeschlagenem Schädel schlenderten nicht selbst zum Strand.
Er musste ermordet worden sein.
Und um endlich seine Identität herauszufinden, musste ich ihn erneut anfassen, um ihn herumdrehen zu können.
Also tat ich, was jeder tapfere Krieger tun würde, wenn er mit einer so schrecklichen Aufgabe konfrontiert wäre: Ich kniff die Augen zusammen und jammerte: »Oh nein, oh
nein, oh nein«, als ich nach dem Arm der Leiche tastete und ihn unter Aufwendung all meiner Kraft und so schnell wie möglich umzudrehen versuchte.
Dann ließ ich mich zitternd und jammernd zurück in den Sand sinken, bis das Erbrochene, das mir in die Kehle gestiegen war, wieder den Rückzug angetreten hatte.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, konnte mich aber nicht dazu durchringen, ihn anzusehen.
»Komm schon, Jane«, redete ich auf mich ein. »Wahrscheinlich ist er gar nicht aus Rockabill. Vielleicht ist es ja irgendein Fremder.«
Schließlich musste ich meine Augenlider mit den Fingerspitzen anheben. Mein ganzer Körper wehrte sich dagegen, obwohl mein Hirn ihn als komplettes Weichei beschimpfte.
Als ich schließlich doch das Gesicht des toten Mannes anblickte, schluchzte ich beinahe vor Erleichterung - und aus einem damit verbundenen Schuldgefühl - auf. Ich war erleichtert, weil ich zwar wusste, wer der Tote war, ihn aber nicht gut kannte oder viel mit ihm verband. Es war Peter, der sich über den Winter in ein Ferienhaus der Allens eingemietet hatte. Ich kannte nicht einmal seinen Familiennamen. Es war bekannt, dass er an einem Buch arbeitete und außerhalb der Saison hier war, um die nötige Ruhe dafür zu haben. Er kaufte hin und wieder im Buchladen ein und schien sich immer gern mit mir zu unterhalten, ohne dass sein Interesse an mir irgendwie unangenehm gewesen wäre. Peter war nur ein ziemlich durchschnittlicher Mann mittleren Alters, der zu jedem freundlich war und vielleicht ein wenig einsam, ganz allein in seinem winzigen Ferienhaus. Manchmal konnte er zwar ziemlich aufdringliche
Fragen stellen, aber sobald er merkte, dass er zu weit gegangen war, ruderte er zurück und entschuldigte sich damit, dass er manchmal vergaß, dass echte Menschen keine Figuren aus einem Buch waren, die nur darauf warteten, ihre Geheimnisse zu offenbaren.
Deshalb fühlte ich mich jetzt auch so schuldig wegen meiner Erleichterung, nachdem ich ihn erkannt hatte. Peter war ein netter Mann gewesen und sogar freundlich zu mir geblieben, als er schon genug Zeit in Rockabill verbracht hatte, um meine »wahre« Geschichte erfahren zu haben. Er hatte es nicht verdient, ermordet und dann wie ein Sack Müll entsorgt zu werden.
Apropos entsorgen…
Was zur Hölle sollte ich jetzt bloß mit der Leiche machen?
Ich konnte ja wohl schlecht die Polizei rufen. Wie sollte ich ihnen erklären, warum ich hier war? Oder das Mordopfer?
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